Bevor sich die Regierung in den Sommerurlaub verabschiedete, hatte ihr Chef Jean-Claude Juncker am Dienstag noch einmal die Presse zusammengerufen, um ihr, bald stoisch, bald genervt, vorzulesen, was ihm einige fleißige Beamte zusammengetragen hatte: Dass die Minister seit den Wahlen in 46 Kabinettsitzungen, davon 45 unter dem Vorsitz des Premiers, 96 Gesetzentwürfe und 312 großherzogliche Reglemente verabschiedet hatten. Das seien sogar 26 Reglemente mehr gewesen als in der Vergleichsperiode der vorigen Legislaturperiode.
Die Rechnung sollte der etwas verzweifelte Gegenbeweis zu Vorwürfen sein, dass das „Land im Immobilismus versinke“ und „der Staatsminister sich um alles kümmere, bloß nicht um das eigene Land“, wie Juncker „fast beleidigt“ seine Kritiker zitierte. DP-Präsident Claude Meisch hatte auf dem liberalen Parteitag Ende Juni gemeint, dass dem Premier die internationale Laufbahn wichtiger sei als die Interessen der Nation. Und auf dem grünen Parteitag hatte Fraktionssprecher François Bausch am selben Tag geklagt, dass das Land in der tiefsten Krise seit 1929 stecke und „die Regierung im Winterschlaf“ liege.
Weil sich diese Vorwürfe inzwischen wohl auch an den Stammtischen herumgesprochen haben, beteuerte der Premier, dass er nur dreimal für einen oder zwei Tage im fernen Ausland gewesen sei, in Slowenien, Kanada und Japan, und dass seine wöchentlichen Auftritte in Brüssel oder Straßburg als Sprecher der Eurogruppe jeweils nur von nachmittags vier bis anderntags morgens um zehn Uhr dauerten. Völlig falsch sei die Darstellung, dass der Premier „sich nur um Europa kümmere und ansonsten auf der faulen Haut liege“.
Doch im Namen der Unternehmerverbände hatte auch UEL-Präsident Michel Wurth nach einer Unterredung im Staatsministerium dazu aufgerufen, den aktuellen „Immobilismus“ im Land zu überwinden. Vor dem Immobilismus angesichts der im Stellungskrieg verharrenden Gewerkschaften und der zum Bewegungskrieg übergegangenen Unternehmer hatten zuvor schon die DP und selbst das Luxemburger Wort gewarnt.
Doch Juncker gab zurück: „Ist sich die Tripartite nicht einig, ist das noch längst nicht mit Stillstand gleichzusetzen.“ Die Regierung arbeite nämlich fleißig und starre nicht „das ganze Jahr über, wie das Kaninchen vor der Schlange, gebannt auf die Tripartite“. Und „wenn der Staatsminister sich nicht äußert, entsteht der falsche Eindruck, dass das Land im Immobilismus versinkt“, antwortete er verschiedenen Journalisten, die bemängelten, dass er seit fünf Monaten kein Pressebriefing mehr nach den Kabinettsitzungen abgehalten hatte.
Dass aber der einst als charismatischer Alleskönner angetretene Premier auf fast demütigende Art und Weise seine politische Existenz mit der Zahl der großherzoglichen Reglemente beweisen muss – die rezentesten befassen sich mit einer Gedenkmünze für Elisabeth von Böhmen, dem Kartoffelkraut und dem Abfall im Rhein –, zeigt nur, wie weit verbreitet der Eindruck inzwischen sein muss, dass die Regierung nicht mehr regiert.
Machiavelli lehrt in seinem Fürst, „dass man nie eine Unordnung einreißen lassen darf, um einen Krieg zu vermeiden, denn er wird gar nicht vermieden, sondern nur zum eigenen Nachteil aufgeschoben“. Aber der Regierungschef, der den Tripartite-Krieg bis zum Herbst aufgeschoben hatte, um seine Koalition zu retten, hat die Unordnung vielleicht schon zu tief einreißen lassen, wenn sich, zu Recht oder zu Unrecht, die Gewerkschaften aus dem ökonomischen Grundkonsens und die Unternehmer aus der Sozialpartnerschaft verabschieden.
Entsprechend rasch griff die Unordnung auf die enthemmten eigenen Truppen über: Als Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) und Finanzminister Luc Frieden (CSV) während der Tripartiteverhandlungen öffentlich über die Sparvorschläge der Regierung stritten. Oder die CSV-Abgeordneten Lucien Thiel und Robert Weber am Wochenende im Luxemburger Wort den Richtungsstreit in der CSV öffentlich als Rollenspiel vorführten. Und Juncker selbst am Dienstag auf Distanz zur Gesundheitsreform ging, deren „Orientierungen“ er und sein Kabinett laut offizieller Mitteilung am 23. Juli „gutgeheißen“ hatten.
Schon Anfang des Jahres hatte der ratlose Umgang der Regierung mit der Tripartite den Eindruck aufkommen lassen, dass eigentlich niemand mehr im Land regiert. Er hatte sich dann erhärtet, als der Premier die Tripartiteverhandlungen abgebrochen hatte und weitgehend von der Bildfläche verschwunden war. Seine etwas verzweifelte Bilanz der Gesetzentwürfe und Reglemente widerlegt diesen Eindruck und die zunehmenden Kritiken nur auf den ersten Blick. Denn auf den Vorwurf, dass das Land nicht regiert wird, erbrachte Juncker nur den Beweis, dass es verwaltet wird.
Der Unterschied ist, dass im Idealfall Verwalten eine ausführende und Regieren eine gestaltende Tätigkeit ist, letztere ersterer den Rahmen vorgibt. Ihre Verwechslung droht rasch, zynische Betrachtungen zu bestätigen, wie sie der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger im Januar 1987 im Spiegel angestellt hatte: „Die Bundesrepublik ist relativ stabil und relativ erfolgreich, nicht weil, sondern obwohl sie von den Leuten regiert wird, die von den Wahlplakaten herunter grinsen.“ Denn „die Bundesrepublik kann sich eine inkompetente Regierung leisten, weil es letzten Endes auf die Leute, die uns in der Tagesschau langweilen, gar nicht ankommt. Die realen gesellschaftlichen Prozesse verlaufen dem Bonner Zirkus gegenüber weitgehend autonom.“
Die Hilflosigkeit, mit der Juncker am Dienstag seine eigene Regierung öffentlich zur „verbalen Disziplin“ aufrufen und ihr eine „suboptimale“ Funktion bescheinigen musste; die Angst, im Herbst eine Tripartite einberufen zu müssen, die das Fiasko vom Frühjahr nur wiederholt; der süffisante Umgangston, den selbst Außenstehende, wie ABBL-Präsident Ernst Wilhelm Contzen, gegenüber ihm an den Tag legen, lassen erkennen, wie der Premierminister Gefahr läuft, seine politische Macht zu verlieren.
Junckers Macht, das heißt inzwischen vor allem seine Popularität, scheint seit Jahren mehr auf sein europapolitisches Ansehen zurückzugehen als auf seine innenpolitischen Leistungen. Deshalb begann sein Machtverlust vielleicht im November vergangenen Jahres mit dem Ansehensverlust, als er erfolglos aus Brüssel nach Hause und in das Kabinett zurückkehren musste, das er zugunsten des europäischen Ratsvorsitzes verlassen wollte.
Unter diesen Bedingungen konnte die Krise nur den Machtverlust des müde gewordenen CSV-Stars beschleunigen. Denn Regierende verloren ihre lange besessene Macht, lehrt Machiavelli, wenn „sie in ruhigen Zeiten nie daran gedacht haben, dass diese sich ändern können (der gewöhnliche Fehler der Menschen, bei gutem Wetter nicht an den Sturm zu denken), und dann, als schlimme Zeiten kamen, haben sie statt an Verteidigung an Flucht gedacht“.
Wenn die sozialen Auseinandersetzungen sich aber nun in dem Maße verschärfen, dass die Unternehmer die Sozialpartnerschaft als Geldverschwendung und die Gewerkschaften sie als Betrugsmanöver ansehen, hat das „Luxemburger Modell“ ausgedient. Und damit hat sich auch die auf ihm errichtete Regierungsform überlebt, die Juncker, als Sympathisant des linken, gewerkschaftsnahen CSV-Flügels, noch einmal zu einer letzten Blüte brachte, wie das Wahlergebnis der CSV vergangenes Jahr zeigte. Doch das „Politbarometer“ des Tageblatt bescheinigte ihm im Juni einen Tiefstand seiner immer noch alle überragenden Popularität. Und in der CSV gibt es genug Ungeduldige, die seit Jahren darauf warten, dass mit dem ökonomischen Modell des Luxemburger Sozialstaats und seiner Sozialpartnerschaft auch das politische Pendant, die Ära Juncker, zu Ende geht.