Es begann mit Schmerzen in der rechten Schulter und wurde immer schlimmer. Martin Schmelzer (Name geändert) konnte seinen Job als Vorarbeiter einer Reinigungsfirma nicht mehr wahrnehmen. Nach mehrmaligen Krankenurlauben und auf Anraten seines Arztes, der eine chronische Entzündung diagnostizierte, wollte sich Schmelzer ins Büro versetzen lassen weil. Sein Chef sah jedoch keinen Bedarf und kündigte ihm. Bei der Arbeitsverwaltung Adem, wo Schmelzer monatlich vorstellig wurde, besuchte er auf Anraten seines Beraters Computerkurse – in Word und Excel. Um dann festzustellen, dass sein Profil für Firmen uninteressant war. „Alle Bewerbungen liefen ins Leere.“ Jetzt bezieht Schmelzer RMG, hat das aktive Suchen aufgegeben, grübelt aber immer noch, was er tun kann, um den Weg zurück ins Arbeitsleben zu finden. „Ich bin erst 53. Das ist kein Alter für die Rente“, sorgt er sich.
So ähnlich wie Schmelzer geht es tausenden. Sie gehören zu dem Personenkreis der „Vulnerablen“, der Verletzlichen, wie es im Fachjargon der Jobvermittler heißt. Um sie sollte es auf der Retel-Konferenz (Réseau d’étude sur le marché du travail et de l’emploi) gehen, die am Dienstag in Mondorf stattfand. Experten aus Statistik-amt und Verwaltung, aber auch von Beschäftigungsinitiativen hatten sich eingefunden, um das Problem besser zu verstehen lernen und Lösungsansätze zu diskutieren. Erste Erkenntnis: Auf dem Arbeitsmarkt heute zählen zu den Vulnerablen längst nicht mehr nur die ohne Schulabschluss oder mit abgebrochener Ausbildung und persönlichen Einschränkungen, wie eine Behinderung oder eine Krankheit. Beim Profiling fällt neben der Ausbildung auch die Alterskategorie als Kriterium ins Gewicht, das die Vermittelbarkeit positiv oder negativ beeinflussen kann. Will heißen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist konstant hoch, liegt je nach Rechenweise bei über fünf (Jugendliche in Beschäftigungsmaßnahmen wurden herausgerechnet) oder über fast 20 Prozent. Aber auch wer über 45 Jahre alt ist und seinen Job verliert, riskiert keine Neuanstellung zu finden.
Um das so genannte Profiling ging es viel im Mondorfer Festsaal. Getreu der Devise: Man muss das Problem studieren, um Lösungsansätze zu finden. Welche Arbeitsinstrumente eignen sich am besten für welche Klientel, um sie schnellstmöglich wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Aus Paris war eigens eine Expertin des Arbeitsministeriums angereist, ein französischer Arbeitsökonom und ein Forscher der Sorbonne kamen ebenfalls zu Wort. Der frankophile Fokus mag daran liegen, dass ein Teil der Forscher in hiesigen Statistikämtern und Instituten aus dem frankophonen Raum stammt. Ob Frankreich als Vorzeigeschüler bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit geeignet ist, sei dahin gestellt: Dort kennt die Arbeitslosenstatistik, ähnlich wie in Luxemburg, seit einigen Jahren nur eine Richtung: nach oben. Vielversprechender wäre vielleicht, zu untersuchen, wie es die österreichischen Jobvermittler machen oder ihre Kollegen in Norwegen. Norwegen war das erste Land, das mit subventionierten Coaching-Programmen insbesondere jungen Leuten mit gutem Schulabschluss einen Weg ins Berufsleben ebnen wollten, auch die vergangenes Jahr in Brüssel verabschiedete, aber mit erheblichen Startschwierigkeiten kämpfende Garantie jeunes stammt aus einem skandinavischen Land: Finnland.
Das war eine weitere Erkenntnis, über die sich die Experten in Mondorf einig waren: Einmal arbeitslos geworden, ist die Chance eine neue Beschäftigung zu finden in den ersten Monaten am größten. Untersucht wurde dies anhand von Verlaufsdaten von Neet-Jugendlichen (not in education, employment or training). Ob die erfolgreiche Vermittlung allerdings an der guten Betreuung gelegen hat oder am Profil des Bewerbers, darüber sagten die Statistiken (noch) nichts aus. Auch Vermittlungsquoten oder Evaluationen der Arbeit der Jobberater, die einen Hinweis auf den Erfolg einer Maßnahme oder eine Methodologie geben könnten, waren in Mondorf Mangelware.
Das war ein weiterer ein Aha-Moment: Trotz jahrelangen Reformierens des Arbeitsamts sind viele Statistiken noch immer nicht differenziert genug aufgeschlüsselt und zudem in Fachkreisen wenig verbreitet. Wie sagte eine Teilnehmerin im Anschluss an die ganztätige Konferenz: „Eigentlich müssten diese Daten längst zur Verfügung stehen und allen zugänglich gemacht werden, die mit dieser Klientel arbeiten.“ Dieselbe Beobachtung gilt für die aufgezeigten Methoden: Dass Arbeitsvermittler sich jetzt rühmen, mittels standardisierter Fragebögen Arbeitslose zunächst in jene zu unterscheiden, die eine „reguläre“ Betreuung und jene, die eine intensive Beratung bräuchten, hätte vor Jahren schon zur allgemeinen Praxis gehören müssen.
Er habe „eine Arbeitsverwaltung geerbt, die in einem katastrophalen Zustand war. Der Umbau braucht Zeit“, sagte Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) in einer Pause auf Nachfrage. Er versprach, die „vielen guten Beiträge“ in weitere beschäftigungspolitische Maßnahmen einfließen lassen zu wollen. Nur war an positiven und vor allem wirksamen Beispielen bis dahin nichts gezeigt worden. Außer Allgemeinplätzen über Ansätze im Ausland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Schweden, die sehr holzschnittartig und ökonomistisch vorgetragen wurden und wo der britische Ansatz sogleich als neoliberal aussortiert wurde, bekamen die Teilnehmer in den ersten Themenblöcken kaum Neues zu hören.
Studien, die etwa die deutsche Sozialhilfe mit dem Welfare-to-work-Programm in den USA verglichen, hatten bereits in den 1990-er Jahren nachgewiesen, dass stärker aktivierende Elemente Sinn machen können: Die amerikanischen Probanden versuchten viel schneller aus der Abhängigkeit herauszukommen als ihre deutschen Counterparts. Allerdings: Gelang ihnen dies nicht in den ersten Monaten, war dies oft der Beginn einer langen Wohlfahrts-Karriere. Die Stigmatisierung von Sozialhilfebeziehern in den USA ist enorm. Analysen wie diese führten dazu, dass in Europa Länder die sonst sozialdemokratische Wohlfahrtssysteme aufgebaut hatten, wie beispielsweise Dänemark, stärker aktivierende Momente in ihrer Beschäftigungspolitik einsetzen, indem sie beispielsweise die Arbeitslosengeld ein Jahr fast in Höhe des Lohnes bezahlten, damit die Person eine neue Arbeit suchen kann, ohne zu viel gestresst zu sein. Dann aber wird die Unterstützung deutlich zurückgefahren, respektive an strikten Auflagen, wie der Beteiligung an Weiterbildungsprogrammen, gebunden.
Doch gerade bei der Gruppe der besonders Vulnerablen funktioniert die vom Minister geradezu mantrahaft vorgetragene A und O einer erfolgreichen Vermittlung, die Aus- und Weiterbildung, nicht. Das sagen Sozialarbeiter und Psychologen. Menschen, die nach einer Haftstrafe den Wiedereinstieg in ein geregeltes Erwerbsleben versuchen, oder Menschen mit psychischen Einschränkungen oder einer Behinderung, die wegen ihrer Krankheit ihre Arbeit verlieren respektive gar nicht erst den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. „Wir haben Leute, die haben ein Bac+7 und viele Jahre in führender Position in einem Betrieb gearbeitet“, betont Déborah Stumpf, Jobcoach bei den Ateliers de travail thérapeutiques et protégés in Walferdingen und ebenfalls in Mondorf dabei. Eine schwere Depression, ausgelöst durch Stress oder eine Lebenskrise, eine psychische Erkrankung können einen Menschen aus der Bahn werfen. Ihre spezifischen Probleme kamen am Dienstag kaum vor.
Dabei gibt es erfolgversprechende Ansätze, wie eben jenes Job-Coaching-Programm, deren Finanzierung im Dezember 2015 ausläuft und die weitere Zukunft noch unklar ist. Es sie schade, dass vieles „sehr technisch und vor allem aus ökonomischer Perspektive“ betrachtet wurde, so Stumpfs Eindruck von der Konferenz. Ihre Herausforderung: Anders als bei einem gesunder Arbeitnehmer haben psychisch Kranke erschwerte Startbedingungen: Sie funktionieren vielleicht nicht so reibungslos im Betriebsablauf, wie sich das Arbeitgeber wünschen. Unternehmen schrecken häufig davor zurück, Arbeitnehmer mit psychologischen Leiden einzustellen, weil sie den Mehraufwand scheuen und nicht möchten, nach außen könnte das Bild entstehen, ihre Arbeitsbedingungen seien ungesund. Andererseits, bedauert Stumpf, fragen viele Unternehmen nicht um Hilfe. Dafür ist sie da: Der Jobcoach ist das Bindeglied zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betrieb. Im vergangenen Jahr haben Stumpf und ihr Kollege 434 Unternehmen auf der Suche nach Praktikumsplätzen oder Anstellungen kontaktiert, davon haben 33 geantwortet. Ähnlich ist die Vermittlungsquote: von 105 Jobsuchenden, die Stumpf betreut, konnten 10 in diesem Jahr dauerhaft untergebracht werden, neun weitere werden, wenn nötig, begleitet. Das heißt, sollte es Probleme am Arbeitsplatz geben, steht Stumpf und ihr Kollege bereit, um zu beraten und nach Lösungen zu suchen. Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin. „Wir könnten noch erfolgreicher sein, wenn wir noch enger mit den Arbeitsämtern und anderen Sozialdiensten zusammenarbeiten würden“, ist Stumpf überzeugt. Denn das ist ein Fakt: Langzeitarbeitslose, Ex-Gefangene und andere „Verletzliche“ sind oft nicht nur erwerbslos und kaum qualifiziert. Sie kämpfen zudem mit sozialen und psychologischen Problemen, die gelöst werden müssen, sollten sie dauerhaft in die Erwerbsgesellschaft zurückfinden. Ob allerdings Aussagen wie die von Adem-Leiterin Isabelle Schlesser, die Adem sei „nicht die Caritas, das dringend benötigte vernetzte Denken fördert, ist fraglich.
In Luxemburg mangelt es oft nicht an Hilfsangeboten. Aber entweder sind sie überlaufen, nicht bekannt, oder sie kommunizieren einfach zu wenig miteinander. Das gilt übrigens auch für manche Beschäftigungsinitiativen. Gerade Langzeitarbeitslose, die in befristeten Beschäftigungsmaßnahmen die Runde drehen, haben nicht selten einen Marathon an Bewertungs- und Beratungsgespräche hinter sich. Ein Ex-Häftling, der für die Teilnahme an einer arbeitsvorbereitenden Maßnahme zu seinen Kompetenzen befragt wurde, weigerte sich entnervt, den vorgelegten Fragebögen auszufüllen: Er habe „solche Formulare schon x-mal ausgefüllt, genützt hat’s trotzdem nichts“.