Am Mittwoch trat der parlamentarische Ausschuss der Institutionen und der Verfassungsrevision zusammen und diskutierte einen Textvorschlag seines Vorsitzenden Alex Bodry (LSAP), um im Eilverfahren Artikel 32 der Verfassung zu ändern, noch vor der seit Jahren vorbereiteten großen Verfassungsrevision. Auf diese Weise sollen die im Laufe der letzten Jahrzehnte schrittweise erweiterten Vollmachten der Regierung noch einmal ausgeweitet werden, auch auf nationale Krisen.
Der Text übernimmt den Vorschlag, auf den sich Mehrheit und CSV am 15. Mai 2015 nach längeren Diskussionen als Änderungsantrag zur großen Verfassungsrevision geeinigt hatten: „Le Grand-Duc, après avoir constaté la gravité de la situation et l’urgence, peut prendre en toute matière des mesures réglementaires appropriées, même dérogatoires à des lois existantes, en cas de crise internationale ou de menaces réelles pour les intérêts vitaux ou les besoins essentiels de tout ou partie du pays ou de la population. La durée de validité de ces règlements est limitée à trois mois.“
Weil es aber darum geht, der Regierung nicht bloß für den in der Verfassung bereits vorgesehenen Fall einer internationalen Krise, sondern nun erstmals auch für den Fall einer nationalen Krise Vollmachten zuzugestehen, soll auch der Fall einer schweren Störung der öffentlichen Ordnung aufgezählt werden, um der Regierung zu erlauben, sich über bestehende Gesetze hinwegzusetzen. Aber die CSV nannte seinerzeit den Streik vom 10. Oktober 1973 eine schwere Störung der öffentlichen Ordnung, für die ADR stellen schon einige verschleierte Frauen eine Bedrohung dieser Ordnung dar.
Die Idee geht im Grunde auf den Staatsrat zurück. Er hatte Anfang Juli 2013 in seinem Gutachten zum Gesetz über den Zivilschutz und das Haut commissariat à la protection nationale befunden, dass es schön und gut sei, wenn das Gesetz für den Krisenfall die Requirierung von Medien erlaube und Bestimmungen über den Datenschutz, das Rettungswesen oder öffentliche Ausschreibungen außer Kraft setze. Aber es könnten Krisen eintreten, die so schlimm seien, dass „le Gouvernement ne pourrait réagir de façon adéquate qu’en aménageant temporairement certaines dispositions de la Constitution et en suspendant certaines lois“. Deshalb sei es ratsam, Vorkehrungen zu treffen, um die Regierung mit Sondervollmachten auszustatten, die den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen sprengten, „selon le dicton ‚À la guerre comme à la guerre’“. So dass der Staatsrat „recommande-t-il de mettre à profit la révision constitutionnelle en cours (doc. parl. n° 6030) pour adapter la Constitution afin qu’une solution comparable à celle de l’article 32(4) – qui ne vise que les crises internationales – soit dédiée aux crises ayant un caractère exclusivement national“.
Denn die Verfassung sieht seit mehr als zehn Jahren, seit der Revision vom 19. November 2004, einen sehr vagen und damit sehr weitreichenden Notstandsartikel 32(4) vor, der besagt: „Toutefois, en cas de crise internationale, le Grand-Duc peut, s’il y a urgence, prendre en toute matière des règlements, même dérogatoires à des dispositions légales existantes. La durée de validité de ces règlements est limitée à trois mois.“ Aber er beschränkt sich ausdrücklich auf den „Fall eines internationalen Konflikts – das scheint mir ganz wichtig zu sein, es muss eine internationale Krise vorliegen“, so Alex Bodry am 12. Mai 2004 vor dem Parlament. Damals war auch weder der Staatsrat, noch eine Berufskammer oder ein Abgeordneter auf die Idee gekommen, der Regierung Vollmachten für den Fall einer nationalen Krise oder gar einer schweren Störung der öffentlichen Ordnung zu erteilen. Unter internationaler Krise stellte man sich zu der Zeit die Attentate vom 9. September 2001 in den USA vor, unter nationaler Krise einen Reaktorunfall in Cattenom.
Vor einem Jahrzehnt war es vor allem darum gegangen, erstmals überhaupt einen Notstandsartikel in die Verfassung zu schreiben. Denn das Großherzogtum hatte seit seiner Gründung drei Kriege und noch mehr Wirtschaftskrisen überstanden, ohne dass die Verfassung der Regierung außerordentliche Vollmachten erteilt hätte. Und auch heute gehen in vielen Ländern die Meinungen darüber auseinander, ob eine Aufhebung der Gewaltentrennung tatsächlich ein unverzichtbares Mittel ist, um den Terrorismus zu bekämpfen.
Im Ersten Weltkrieg verabschiedete das Parlament erstmals ein „Gesetz vom 15. März 1915, welches der Regierung die nötige Befugnis erteilt zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen des Landes während des Krieges“. Als das Parlament eine Woche nach dem Depot des Maulkorbgesetzes ein „Gesetz vom 10. Mai 1935, betreffend die Festsetzung der Kompetenz der Exekutivgewalt in Wirtschaftsangelegenheiten“ verabschiedete, warnte der sozialistische Abgeordnete René Blum davor, dass das Vollmachtenprinzip der Regierung den Weg in ein „autoritäres Regime“ ebne. Von 1946 bis 2003 erteilte die jeweilige Kammermehrheit gegen Ende jedes Jahres der Regierung Vollmachten, die auf Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten beschränkt waren und sich nicht auf Bereiche erstrecken durften, die laut Verfassung durch Gesetze geregelt werden. Im Laufe der Jahre wurden diese Blankoschecks dazu gebraucht, um die Wechselkurse zu beeinflussen, Dringlichkeitsbeschlüsse im Interesse des Finanzplatzes umzusetzen oder Fluggesellschaften Bürgschaften zu gewähren, am Ende dann, um Wirtschaftssanktionen gegen den Irak, Serbien, Montenegro oder Libyen zu verhängen.
Doch nach der Schaffung eines Verfassungsgerichts 1996 und plötzlich auch vom Staatsrat geteilten Bedenken an der Rechtmäßigkeit der unter dem Vollmachtengesetz erlassenen Verordnungen nutzten Regierung und Opposition die Gelegenheit, um dem Vollmachtengesetz nach Jahrzehnten Verfassungsrang einzuräumen. Außerdem verlangte die Regierung in einer Stellungnahme vom 20. April 2001 „une procédure d’urgence généralisée valable pour toutes les matières confondues: celle-ci ne devrait donc plus se limiter aux domaines économique et financier“.
Der Staatsrat war zunächst entsetzt und warnte in seinem ersten Gutachten vom 19. Februar 2002: „Ici ce n’est plus une loi spéciale qui déclenche l’intervention du pouvoir réglementaire, mais c’est la Constitution elle-même qui habilite directement le Grand-Duc à prendre en cas de crises internationales et s’il y a urgence – ces deux conditions devant être réunies cumulativement – des règlements même dérogatoires à des dispositions légales existantes.“ Es sei also nicht mehr das Parlament, sondern der Großherzog, das heißt die Regierung, die entscheide, wann und wie sie mit Vollmachten regiere: „En fait, le Grand-Duc disposerait en l’hypothèse de pouvoirs quasi illimités. De surcroît, ces pleins pouvoirs découleraient directement de la Constitution et échapperaient quasiment à tout contrôle parlementaire.“
Doch nach einigen Versuchen, die Vollmachten der Regierung einzugrenzen und sie einer nachträglichen parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen oder von der Verfassung dem Gesetz übertragene Bereiche sowie Strafbestimmungen auszunehmen und einzugrenzen, warf der Staatsrat am 16. März 2004 alle seine Bedenken über Bord und schlug den knappsten und weitest reichenden Wortlaut vor – der nun in der Verfassung steht. Nun hatte die Regierung die sozusagen unbegrenzten Vollmachten, vor denen der Staatsrat noch Anfang 2002 gewarnt hatte – aber bloß für den Fall internationaler Krisen.
Als nächster Schritt sollten nun die Vollmachten mit der geplanten großen Verfassungsrevision auch für den Fall nationaler Krisen erteilt werden, wie der Staatsrat 2013 in seinem Gutachten über das Haut commissariat à la protection nationale vorgeschlagen hatte. Doch nach den Attentaten im November in Paris wollte die Regierung nicht mehr so lange warten und sich von der CSV Laxismus vorwerfem lassen. Um so mehr als das Schicksal der Verfassungsrevision und des dazu angekündigten Referendums unsicher geworden ist.
Der am Mittwoch diskutierte Revisionsentwurf überlässt es weiterhin der Regierung, selbst zu entscheiden, wann eine Krise herrscht, sie kann sich also auf der Grundlage der Verfassung selbst umfassende Vollmachten erteilen. Als einzige Antwort auf eine solche Krise ist eine Aufhebung der Gewaltentrennung vorgesehen: Die Regierung kann anstelle des Parlaments ihren Entscheidungen Gesetzeskraft verleihen oder Gesetze außer Kraft setzen; das gilt auch für Gesetze über den Schutz der Person oder die Justizorganisation. Das Parlament hat keine Möglichkeit, die Erlasse der Regierung zu widerrufen, ohne einen Verfassungsnotstand zu provozieren.
Als letzter Schutz des Rechtsstaats sieht der noch nicht endgültige Textvorschlag vor, dass die Regierung nur zehn, 12 oder 15 Tage unkontrolliert mit Vollmachten herrschen dürfe, danach müsste sie vom Parlament durch ein befristetes und mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedetes Gesetz weiter dazu ermächtigt werden. Ähnliche Einschränkungsversuche waren sowohl bei der Revision von 2004 als auch bei den Änderungsanträgen im Mai vergangenen Jahres wieder fallen gelassen worden.
Nachdem das alte Vollmachtengesetz Verfassungsrang erhalten hat und nicht mehr auf wirtschaftliche Bereiche beschränkt ist, wird es nun auch auf nationale Krisen und möglicherweise sogar auf schwere Störungen der öffentlichen Ordnung ausgeweitet. Dann ist das Arsenal komplett: Die Regierung soll die Möglichkeit bekommen, nach eigenem Gutdünken den Notstand herrschen zu lassen, ohne ihn auszurufen, weil er nirgends definiert und vielleicht nicht einmal so genannt wird. So soll es dann auch eine typisch luxemburgische Variante des seit Jahren international zu beobachtenden Übergangs von der Idee des Rechtsstaats zum Sicherheitsstaat geben: ohne feste Regeln, ohne viele schriftliche Spuren, hinter verschlossenen Türen, unter vier Augen, unter Schulfreunden... So wie der Historiker Vincent Artuso die Arbeitsweise der sich auf das Vollmachtengesetz von 1939 berufenden Verwaltungskommission unter deutscher Besatzung beschreibt.