Die seit 1898 von einem deutschen Firmenkonsortiums unter Leitung der Deutschen Bank geplante Bagdad-Bahn war das größte internationale Infra-strukturprojekt der damaligen Zeit. Es zog viele aufstrebende Ingenieure aus allen Ländern an, die berufliche Herausforderungen nicht scheuten. Beim Bau der Bagdad-Bahn waren zumindest zwei Luxemburger in leitender Position beschäftigt. Dominik Karl Leclerc aus Esch/Alzette (1867-1941) war Generalsekretär und Abteilungsvorstand des dritten Bauabschnitts der Bagdad-Bahn. Adolphe Bastendorff aus Diekirch war ab Oktober 1912 als Hauptingenieur in der ersten Sektion des dritten Bauabschnitts tätig.
Dieser Bauabschnitt umfasste die Streckenführung zwischen Arada und Darbeesa. Hier, an der heutigen syrisch-türkischen Grenze, sahen beide seit Juni 1915 die großen Deportationszüge der Armenier in die syrische Wüste, die zum Tod von eineinhalb Millionen Armeniern führten. 1916, noch während der Massaker, kam Bastendorff ein erstes Mal nach Diekrich auf Heimaturlaub, wo er „eine Anzahl selbstaufgenommener Photographien über die Niedermetzelung der armenischen Christen zeigte. Sogar sein eigener Diener, ein Armenier, war damals ermordet worden“, wie das Luxemburger Wort damals berichtete.
Bastendorff hatte am 3. September 1915 dem deutschen Konsul Walter Rössler in Aleppo über die Massaker in seinem Arbeitsbereich berichtet. Am 18. Dezember 1915 schickte er dem Konsul auf dessen Wunsch einen ausführlichen Bericht. Rössler leitete ihn an das deutsche Außenministerium weiter. Zwischen Bastendorffs mündlichem und seinem schriftlichen Bericht lag der Deportationsbefehl vom 16. Oktober 1915 für die armenischen Arbeiter der Bagdad-Bahn, welcher deren sicheres Todesurteil bedeutete. Bastendorff, der selbst eine Reihe armenischer Mitarbeiter hatte, wusste das. Er beschrieb das von ihm Erlebte folgendermaßen:
Auf Ihren Wunsch hin unterbreite ich Ihnen einen kurzen Abriss dessen, was ich in Ras-el-Ain und Tell-Abiad über das Martyrium der Armenier beobachtet resp. aus zuverlässigen direkten Quellen erfahren habe. Meine Beobachtungen beginnen in Ras-el-Ain. Anfang Juni verbreiteten sich dort die ersten Nachrichten über die Massaker an der russischen und persischen Grenze. Bei der Auslöhnung der Arbeiter der Bagdad-Bahn am 12. Juni erschienen plötzlich 6 Gendarmen und etwa 12 Tscherkessen, um sämtliche Armenier zum Kaimakam (Landrat) zu bringen (...).
Anfang Juli trafen die ersten Armeniertransporte von der Seite der russischen und persischen Grenze her ein. Es waren Frauen und Kinder, welche Kurden unterwegs ausgeplündert hatten und die gänzlich ohne Mittel blieben, ohne Obdach wurden sie am See zusammengeführt. 6 Tage dauerte es, bis die Regierung Lebensmittel herausschaffte. Täglich trafen neue Transporte ein, so dass sich die Zahl der Emigranten in Ras-el-Ain auf über 10 000 innerhalb kurzer Zeit erhöhte. Inzwischen begann die Weiterbeförderung in der Richtung Der-Zor. Die hübschen Mädchen nahmen die Tscherkessen und Araber aus Ras-el-Ain zu sich nach Hause; viele waren schon unterwegs von den Kurden zurückbehalten worden.
Ein schwunghafter Mädchenhandel wurde durch die Gendarmen betrieben: gegen Zahlung von einigen Medjidies durfte jeder nach seinem Geschmack Mädchen oder Frauen für kurze Zeit oder für immer zu sich nehmen. Der Aufseher über die Armenier in Ras-el-Ain, ein gewisser Nuri Schauch, äußerte unserem Arzt Dr. Farah gegenüber, dass er sich ein Vergnügen daraus mache, armenische Mädchen unter 12 Jahren zu entjungfern (...).
Im September kam ich nach Tell-Abiad. Dort hatten die Soldaten der Bahnbewachung alle Armenier, die sich an der Bahn angesiedelt hatten, abgeschlachtet und ausgeraubt. Kurz vor meiner Ankunft hatte der Kaimakam etwa 3 000 Frauen und Kinder, welche aus der Gegend von Amasia kamen, in einem Han am Bahnhof untergebracht. Die Leute, welche 4 bis 5 Monate unterwegs waren, krankten an Hunger, Dysenterie und Typhus. Weder Brot noch sonstiges Essen wurde vom Kaimakam verabreicht (...).
Etwa 1 000 starben innerhalb eines Monats. Dieser Han bot das jammervollste Bild: alles ausgehungerte Gestalten, dem Tode nahe, die Erde voll von Menschenkot. Der Kaimakam äußerte eines Tages: „Mein Herz ist nicht so empfindlich wie das der Europäer, ich kann gleichgültig dem Sterben dieser Menschen zusehen.“
Im November kamen die Frauentransporte von Urfa. Eine Frau, die mich wiedererkannte, bat mich ihre Kinder zu retten. Der Aufseher trieb sie zurück und rief ihr zu: „Gerettet wird keiner, du wirst gehen, bis du krepierst. Und wo du liegen bleibst, fressen dich die Hunde.“ Soldaten aus Hama, die diese Gruppe begleiteten, verlangten vom Aufseher, dass er Brot herausschaffe, da die Frauen bereits zwei Tage unterwegs seien; er antwortete: „Krepieren sollen sie, zu essen gibt es nichts.“
Gegen 10 000 Emigranten kamen im November und Anfang Dezember aus der Richtung Urfa in Tell Abiad durch (...). Alle Maßnahmen, die den Armeniern gegenüber getroffen wurden, was ich gesehen habe und beobachten konnte, gehen darauf hinaus, was mir der Direktor der Emigranten Schükri Bey sagte: „Das Endresultat muss die Ausrottung der armenischen Rasse sein. Es ist der ständige Kampf zwischen Muslimen und Armeniern, der jetzt definitiv ausgefochten wird. Der Schwächere muss verschwinden.“
Der von Bastendorff zitierte Schükri Bey war kein anderer als Şükrü Kaya (1882-1959), der „Umsiedlungsbeauftragte der osmanischen Regierung für Flüchtlinge und Stammesangehörige“. Sein Amt, das seit November 1914 bestand, also bereits sechs Monate vor Beginn des Genozids, sollte die Deportation der Armenier logistisch durchführen. Dazu bedurfte es häufiger Absprachen mit der Leitung der Bagdad-Bahn.
Bei Ankunft der großen Deportationszüge im September 1915 hatte Kaya seinen Amtssitz von Konstantinopel nach Aleppo verlegt. Dort hatte Inge-nieur Bastendorff, der ebenfalls in der Region Aleppo arbeitete, mit dem Cheflogistiker des Genozids an den Armeniern öfter Kontakt. Das beweist der vertrauliche Ton der Gespräche zwischen beiden. Über den Ausgang der Deportationen hat sich Adolphe Bastendorff nach diesen Gesprächen sicher keine Illusionen mehr gemacht. Anders jedoch der deutsche Konsul Rössler in Aleppo; er glaubte scheinbar anfänglich, dass Kaya nach Aleppo versetzt worden sei, um die Versorgung und Verpflegung der sterbenden armenischen Deportierten zu organisieren, bis ihm Şükrü Kaya sogar auf Französisch erklärte: „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons. Nous voulons une Arménie sans Arméniens.“
Am 3. Januar 1916 leitete Konsul Rössler den Bericht von Adolphe Bastendorff an den deutschen Reichskanzler (Bethmann Hollweg) weiter, mit folgendem Kommentar:
Abschrift eines Berichtes des Ingenieurs Bastendorff, der während der entscheidenden Ereignisse wochenlang in Ras-ul-Ain und Tell Abiad für den Bau der Bagdad-Bahn beschäftigt war und dessen Glaubwürdigkeit die allerbeste ist. Seine mündlichen Berichte waren noch viel erschütternder. Immerhin enthält auch der schriftliche Bericht Tatsachen genug, um einen Einblick zu gewähren in die bewusste und gewollte Vernichtung der Verschickten durch türkische Regierungsorgane. Die von den Armeniern immer wieder vorgebrachte Erzählung, dass die Züge der Verbannten absichtlich kreuz und quer geführt worden sind, um sie „zu Tode zu wandern“, findet hier an einem Beispiel ihre Bestätigung.
Weiter ist Adolphe Bastendorff, außer bei seinem privaten Aufenthalt in Luxemburg 1916, in Bezug auf den Armeniergenozid nicht mehr öffentlich aktiv geworden. Zusammen mit seinem Luxemburger Kollegen Leclerc erhielt er sogar im April 1918, also noch während des Ersten Weltkriegs, „in Anerkennung ihrer hervorragenden Leistungen beim Bau der Kriegsbahn zum Tigris in Mesopotamien (Richtung Rasclaim-Nissibin-Mossoul) die Auszeichnung des ,Eisernen Halbmondes‘ von S. M. dem türkischen Sultan verliehen“, wie die Obermoselzeitung am 23. April 1918 schrieb.
Şükrü Kaya startete bereits 1921 zu einer steilen Karriere in der neuen Türkei unter Kemal Atatürk. Unter Atatürk, dem „Vater der Türken“, war Kaya bis zu dessen Tod 1938 als mehrmaliger Landwirtschafts-, Außen- und Innenminister sowie als Vorsitzender von Atatürks Republikanischer Volkspartei einer der mächtigsten Männer der neuen Türkei, die sich auch personell aus vielen Hauptverantwortlichen des Völkermordes an den Armeniern speiste. Seinem Völkermord-Prozess 1919 vor den britischen Alliierten hatte sich Şükrü Kaya durch Flucht von der Insel Malta entziehen können.
Dass die Zeugenberichte von Ingenieur Bastendorff bislang in Luxemburg nicht bekannt waren, ist wohl der Tatsache zu verdanken, dass er nur einmal in den Dokumenten namentlich erwähnt wird, und zwar in dem Anschreiben des Konsuls Rössler vom 11. Januar 1916. Dort wird Bastendorff als „Deutscher“ dargestellt, in dem Bericht vom 3. September 1915 ist dagegen von einem namentlich nicht genannten „Luxemburger“ die Rede. Bei diesem kann es sich jedoch nur um Adolphe Bastendorff handeln.
Mit Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Projekt Bagdad-Bahn gestoppt. Nicht jedoch der Genozid an den Armeniern, der noch bis 1923 anhielt, bis zur Vernichtung des letzten armenischen Staatsgebildes auf türkischem Boden durch Kemal Atatürks Truppen. Weitere zehntausende Armenier wurden dabei in den Tod geschickt.
Adolphe Bastendorff kehrte nach Luxemburg zurück, wo er am 17. Mai 1921 in Gonderingen, wahrscheinlich auf dem Weg zur Springprozession in Echternach, bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Sein tragischer und früher Tod war wohl auch Grund dafür, dass dieser mutige Zeuge des Völkermords an den Armeniern in Luxemburg in Vergessenheit geriet. Dominik Leclerc aus Esch/Alzette, der wie Bastendorff beim Bau der Bagdad-Bahn beschäftigt war, allerdings keine Zeugenberichte verfasste, starb am 21. April 1941 im Alter von 73 Jahren in Esch. Er konnte gerade noch erleben, wie am 17. Juli 1940 die Bagdad-Bahn durchgehend bis nach Bagdad fertiggestellt wurde. Zehn Monate zuvor war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, in dem sie wieder wichtige Dienste leisten sollte.