Es gibt Bücher, die jeder kennt und zu denen jeder eine feste Meinung hat, ohne sie jemals gelesen zu haben. Dazu gehören die Bibel, Das Kapital, neuerdings der Koran und Mein Kampf. Mein Kampf ist die Gefängnisschrift eines 35-jährigen Gelegenheitsarbeiters und Soldaten, der, wie andere Autoren der verlorenen Kriegsgeneration auch, Schuldige für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und einen Weg zum nationalen Wiederaufstieg suchte.
„Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus“, schrieb Leo Trotzki am 13. Juli 1933 in seinem prophetischen Aufsatz Porträt des Nationalsozialismus in Die neue Weltbühne. „Er brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit – wenn man den Rachedurst des gekränkten Soldaten nicht zählt. Hitler begann mit Verwünschungen und Klagen über die Versailler Bedingungen, über das teure Leben, über das Fehlen des Respekts vor dem verdienten Unteroffizier, über das Treiben der Bankiers und Journalisten mosaischen Bekenntnisses. Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die anderen. […] Sentimentale Formlosigkeiten, Mangel an Disziplin des Denkens, Unwissenheit bei buntscheckiger Belesenheit – all diese Minus verwandelten sich in ein Plus. Sie gaben ihm die Möglichkeit, im Bettelsack ‚Nationalsozialismus‘ alle Formen der Unzufriedenheit zu vereinen und die Masse dorthin zu führen, wohin sie ihn stieß.“
70 Jahre nach dem Tod Adolf Hitlers werden am 1. Januar 2016 die Autorenrechte von Mein Kampf gemeinfrei. Sie wurden bisher vom deutschen Bundesland Bayern gehalten, das jede Neuveröffentlichung ablehnte. Erstmals seit der deutschen Niederlage 1945 wird Mein Kampf dann wieder legal in Deutschland gedruckt und verkauft. Den Anfang macht das Münchner Institut für Zeitgeschichte am 1. Januar mit Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, die sich mit ihren 3 500 historischen Anmerkungen in zwei Bänden von rund 2 000 Seiten und einem Preis von 59 Euro eher an ein wissenschaftliches Publikum richtet als an Jungnazis, die den Text seit Jahren kostenlos aus dem Internet herunterladen können.
Aus heutiger Sicht gilt Mein Kampf als literarische Monstrosität wie Les Cent Vingt Journées de Sodome des Marquis de Sade, weil sein Antisemitismus den Weg nach Auschwitz zu weisen scheint. Aber auch weil sein Autor in Deutschland dämonisiert wird, um ihn zum alleinigen Schuldigen für die Verbrechen und die Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu machen. Neben der brutalen Dummheit des Antisemitismus (567 Erwähnungen) und Antimarxismus (246 Erwähnungen), ausschweifenden Betrachtungen zur Parteitaktik und Geopolitik müsste der heutige Leser von Mein Kampf vor allem darüber erschrecken, wie trivial und modern andere Betrachtungen klingen, die inzwischen in Kabarettsendungen und Internetforen, bei Bürgerinitiativen, Globalisierungsgegnern, Leitartiklern und Patrioten zum guten Ton gehören: der Antiparlamentarismus, der Biologismus, der Malthusianismus, der Nationalismus, der Rassismus, die Dämonisierung des Finanzkapitals…
Adolf Hitler schrieb den ersten Band von Mein Kampf nach dem gescheiterten Novemberputsch 1923 in der Haft. Es sollte „eine Abrechnung“ mit den politischen Gegnern sein, wie der Titel des ersten Bandes hieß, und eine Verteidigungsschrift. Schließlich wurde es auch noch ein autobiografischer Entwicklungsroman. Othmar Plöckinger berichtet in seiner monumentalen Monografie Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922-1945 über die Schwierigkeiten, die Hitler hatte, einen Verleger zu finden, bis er an den „eindeutig parteigebundenen und kaum über München hinaus reichenden Eher-Verlag“ geriet (S. 38).
Der erste Band von Mein Kampf erschien am 18. Juli 1925 in einer Auflage von 10 000 Exemplaren, die bis Ende des Jahres fast ganz verkauft waren. Der zweite Band folgte am 10. oder 11. Dezember 1926 in der gleichen Auflagenhöhe. Das Buch wurde ein gewaltiger Erfolg. Plöckinger errechnete „bis zur Machtergreifung am 30. Januar 1933 eine Gesamtverkaufszahl von etwa 241 000 Stück“ (S. 184). Ab 1933 wurden die bald in einem Band vereinten Teile von Mein Kampf zur in verschiedenen Volks-, Sonder- und Prachtausgaben gedruckten staatlichen Lektüre, die sich Millionen Deutsche aus Interesse oder Opportunismus zulegten oder zu verschiedenen Anlässen geschenkt bekamen. Die Schrift, für die Hitler anfangs zehn, dann 15 Prozent des Verkaufspreises als Honorar bezog, machte ihn zum Millionär. „Die letzten Auflagen von Mein Kampf dürften im Spätsommer/Herbst 1944 gedruckt worden sein. Die letzte nachweisbare Auflage aus dem Jahr 1944 gibt eine Gesamtzahl von 12 450 000 gedruckten Exemplaren an“, so Plöckinger (S. 187).
Bei seinem Erscheinen war Mein Kampf eine völkische Hetzschrift unter anderen, und so ernteten die zwei Bände zuerst keine besondere Aufmerksamkeit – weder in Deutschland, wo einige Besprechungen in Zeitungen erschienen, noch in Luxemburg, wo das Buch erst zur Kenntnis genommen wurde, als die Nazis in Reichweite der Macht kamen. Aber auch hierzulande wurde das Buch eher als bekannt vorausgesetzt, als dass sich jemand näher damit befasste.
Linke und liberale Zeitungen zitierten ab und zu Mein Kampf, um den Autor und dessen Bewegung der Lächerlichkeit preis zu geben. Zu einem Zeitpunkt, als die Rechte Sympathien für den Antikommunismus und Korporatismus der Nazis hegte, berichtete das Luxemburger Wort am 23. September 1932 vom sechsten Verbandstag der Akademischen Bonifatius-Einigung in Hildesheim, die dem Thema „Religion und Volkstum“ gewidmet war. Dabei habe „der stille Mönch mit der ausgeglichenen Künstlerseele und der thomistisch gebildeten Denkweise“, Benedikt Momme Nissen, gehofft, „daß Hitler über sein Buch ‚Mein Kampf‘ weltanschaulich doch noch hinauskommen möge. Ob er Gottes Diener oder Gottes Geißel für das deutsche Volkstum werde, komme auf eine katholische Kraftprobe an“.
Mit dem deutschen Überfall und der Errichtung einer faschistischen Diktatur in Luxemburg änderte sich nur langsam der Stellenwert von Mein Kampf. Der deutsche Sicherheitsdienst musste drei Monate nach dem Einmarsch in seinen „Meldungen aus Luxemburg“ am 29. August 1940 über die „Haltung der luxemburgischen Inhaber von Buchhandlungen“ melden: „Nationalsozialistisches Schrifttum fehlt fast vollkommen“ in den Buchläden. Am 15. Oktober und noch einmal am 26. Oktober 1940 heißt es: „Vom nationalsozialistischen Schrifttum sind folgende Werke vorrätig: Adolf Hitler: Mein Kampf […]“. Doch am 26. November 1940 klagt der Sicherheitsdienst über „die Auslagen der Luxemburger Buchläden“: „Nur wenige haben in diesem Augenblick das Buch des Führers, Mein Kampf, ausliegen. Andere weltanschauliche Literatur, wie die Bücher Rosenberg’s oder Schrifttum über Rassenkunde sind nicht zu haben“ (zitiert nach Jean-Marie Reding in D’Feuille de liaison der Albad 15/2, Mai 2008).
Kurze Zitate aus Mein Kampf erschienen ab und zu als „Tagesspruch“ in der gleichgeschalteten Presse. „Zum Kauf und zur Lektüre von ‚Mein Kampf‘ mußte die große Mehrheit jedoch gezwungen werden, wobei Kauf und Lektüre fast immer gleichbedeutend waren; dies änderte sich auch dann nicht, als ‚Mein Kampf‘ z.B. als Hochzeitgeschenk Jungvermählten überreicht wurde“, schätzte Paul Dostert 1985 in Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und nationaler Selbstaufgabe (S. 123). Das gedruckte Bücherverzeichnis der Stadtbücherei Luxemburg von 1943 führt erst auf Seite 109 im Kapitel „Der nationalsozialistische Staat“, Rubrik „Der Führer und die Bewegung“, an: „Adolf Hitler, Mein Kampf. 781 Seiten. Band 1: Eine Abrechnung. Band 2: Die nationalsozialistische Bewegung.“ Nur selten warben Buchhandklungen in Anzeigen für Mein Kampf.
Um die Verbreitung von Mein Kampf zu fördern, wurde das Buch verschenkt. „Besonderen Beifall fand der Bürgermeister bei seinen Ratsherren, als er ankündigte, daß in Zukunft alle Neuvermählte bei der Trauung, die in feierlicher Form im Dingstuhl abgehalten werden soll, eine Festausgabe Hitler ‚Mein Kampf‘ überreicht bekommen. Ferner soll von nun an allen Schülern zur Schulentlassung ein Führerbild von der Gemeinde geschenkt werden,“ meldete die gleichgeschaltete Obermosel-Zeitung am 8. November 1941 aus Echternach.
Zur Beschenkung der frisch getrauten Ehepaare kauften die Gemeinden nach dem Vorbild der deutschen Gemeinden beim Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachfolger Exemplare der einbändigen Hochzeitausgabe von Mein Kampf, denen oft eine Widmungsseite beigebunden wurde. Größeren Gemeinden stellte der Verlag maßgefertigte Einbände mit dem Stadtwappen her. Was zu von der Stadt Luxemburg verschenkten Ausgaben von Mein Kampf mit dem Roten Löwen auf dem Deckel führte. Gedruckt wurde das Buch nie in Luxemburg, sondern in deutschen und österreichischen Druckereien.
Nach der Befreiung spottete die Obermosel-Zeitung am 15. Oktober 1945: „Der Amtsbürgermeister Stock in Echternach hatte im April 1942 einem Brautpaar nach der standesamtlichen Trauung ‚ein Bild vom Führer‘ als Hochzeitsgeschenk überreicht anstelle des früher üblichen Führerbuches ‚Mein Kampf‘. Ein im Oktober 1943 in Luxemburg getrauter Bräutigam, der nichts erhalten hatte, sagte nach der Zeremonie: ‚Als Ersatz für das Bild oder das Buch hätte man uns wenigstens ein paar Päckchen Africaine-Zigaretten anbieten können.‘“ Nach dem Krieg schenkten viele Gemeinden jahrzehntelang den Jungvermählten statt Mein Kampf das Luxemburger Kochbuch von Ketty Thull.
Die Hochzeitausgabe ist die bis heute in Luxemburg am weitesten verbreitete Ausgabe von Mein Kampf, die Widmungsblätter mit den Namen der jungvermählten Besitzer des Bandes sind oft herausgerissen oder übermalt. Verdiente Parteimitglieder und Kollaborateure wurden mit selteneren Geschenkausgaben von Mein Kampf belohnt. Noch seltener war die Prachtausgabe. Wie aus der am 18. Juli 1946 von D’Unio’n abgedruckten Anklageschrift gegen den Führer der Volksdeutschen Bewegung hervorgeht, wurde dem später wegen Kollaboration hingerichteten Damian Kratzenberg vorgeworfen, dass er „Anfang September 1942 öffentlich auf dem Grabe der Eltern Adolf Hitlers in Linz einen Kranz niederlegte“ und „vom Gauleiter Bücher, vom Propagandaleiter [Albert] Urmes ein Prachtexemplar von ‚Mein Kampf‘ zum Geschenk erhielt“.
Nach der Befreiung verbrannten viele Besitzer ihr Exemplar von Mein Kampf als Zeichen des Patriotismus oder zerstörten es auf andere Weise. In seinen Erinnerungen an die von ihm geleitete Deutsche Volksbücherei in Rümelingen, die seinen Angaben zufolge auch Mein Kampf anbot, schrieb Nic Pletschette am 24. April 1954 in De Biergmann über die Befreiung: „In den nächsten Tagen sonderte ich die Bücher in Verwendbares und Unbrauchbares. Alle verderblichen Schriften wurden im Klosterhof verbrannt.“
Dagegen spottete ein Lussert am 31. März 1947 in Ons Jongen: „D‘Amerikaner wollten dës leschter 150 Exemplären vun „Mein Kampf" opkâfe fir an eng Bibliothe‘k. Si hun natîrlech am ganze Reich keng me‘ font. Dat einfachst wir, si ge‘ngen se hei bei eis siche kommen. Si ge‘ngen der nach me‘ we‘ 150 fannen.“