"Sie sind ja gar nicht imstande Klamm wirklich zu sehn", wirft die Wirtin (Marie-Paule von Roesgen) dem ungläubigen K. (Ulrich Gebauer) vor. Der vermessene Landvermesser liegt am Boden, das halbe Dorf um ihn herum zu einer beeindruckenden Eingangsszene aufgetürmt wie das barocke Gemälde einer Grablegung.
Franz Kafkas Das Schloss ist ein Textlabyrinth. Dramaturg Frank Feitler und Regisseur Frank Hoffmann haben im runden Forum des Campus Geesseknäppchen einen Kreis daraus gemacht: nach zwei Stunden endet das Stück mit der Anfangsszene. Dagegen sollte der unvollendete Roman angeblich damit aufhören, wie K. auf dem Sterbebett erfährt, dass ihm Zugang zum Schloss gewährt wird - zur Macht, zur Erkenntnis, zur Erlösung, für die er alle sozialen Beziehungen aufgab wie der unglückliche Außenseiter Kafka für das Schreiben.
Ein Labyrinth ist unübersichtlich, aber es besitzt einen Ausweg; ein Kreis ist übersichtlich, aber ohne Ausweg. Schon die Inszenierung an sich macht Das Schloss übersichtlicher. Weil sie aus dem verschlungenen Text eine Geschichte destilliert und sie aus der irritierend eingeschränkten Erzählperspektive des Helden befreit. Die Bühnendialoge verringern die Distanz, die der Roman mit der ausschweifenden indirekten Rede aufbaut. So bleibt von der erdrückenden Atmosphäre der Rat- und Ausweglosigkeit im Kampf gegen die bürokratische Allmacht - ein wesentlicher Bestandteil des Romans - nur die Verhinderung jeder Empathie übrig.
Auch Jean Flammangs konventionell angeordnete Bühne bemüht sich um Übersichtlichkeit, statt die Möglichkeiten des ungewohnten Saals zu nutzen. In der Schneelandschaft eines riesigen weißen Lakens ragt eine Holzkonstruktion unerreichbar in die Höhe wie ein Schloss, eine knappe Zeichensprache macht sie durch nichts als einen Kasten Bier oder ein Federbett bald zum Wirtshaus, bald zum Herbergszimmer. Das Spiel von Ulrich Gebauer, aber auch Anne Moll als Frieda und Nina Sengstschmid als Olga, wirkt noch präziser und nuancierter, weil sie gemeinsam mit luxemburgischen Darstellern besetzt sind, von denen sich einige nur durch ihre Klamaukrollen wursteln. Das ist der Preis der nationalen Quotierung durch das Nationaltheater in Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen.
Obwohl er sich über weite Strecken damit zufrieden gibt, den Text angenehm zu illustrieren, versteht es Hoffmann erneut, mit sparsamen Mitteln wunderschöne Figuren und Bilder wie auf keiner anderen Luxemburger Bühne zu schaffen. Vielleicht sogar sparsamer als sonst reiht er sinnvolle, aber manchmal auch beliebige Zitate aneinander, vom anekdotischen Foto des wilhelminischen Schlittschuhläufers mit Melone, der sich in Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel und Schneider Böck verwandelt, über K., der einen kurzen Augenblick zu Chaplins Tramp wird wie Kafka selbst auf dem berühmten Porträt mit Melone aus der Zeit um 1907, bis zu K.'s Gehilfen, einer Mischung aus Buschs Max und Moritz und Hergés Dupond et Dupont.
Dem offenen Text können viele Inszenierungsmöglichkeiten zugemutet werden, vom historisch-autobiographischen Kontext über einen 1984-Aufguss bis zum metaphysischen Schinken. Mit den in großartigen schwarzen k. und k.-Anzügen Flammangs und Silke Schneiders gekleideten Figuren und einigen nostalgischen Requisiten beschränkt sich Hoffmann auf ein distanzierendes, ironisches Zeitkolorit. Zusammen mit Slapstick-Einlagen scheint er die pädagogische Absicht zu verfolgen, im neuen Lyzeumsgebäude Hemmschwellen vor einem Klassiker der Moderne abzubauen. Aber vielleicht sind die sich häufenden Inszenierungen von Texten als Grotesken auch nur eine ebenso elegante wie harmlose Form der Oberflächlichkeit.
Weitere Aufführungen am 16., 21., 22., 23. und 24. März um 20.00 Uhr im Forum Campus Geesseknäppchen, Vorbestellung nachmittags über Tel. 26 44 12 70. Am gleichen Ort liest Ulrich Gebauer, begleitet von Willi Macht und Ralf Schink, am 17. und 18. März um 20.00 Uhr Heine: Gekratzt wie gebissen.