"Es war am 35. Mai. (...) Aber am 35. Mai muss der Mensch auf das Äußerste gefasst sein." So leitet Erich Kästner den Südseetrip von Onkel Ringelhut und Neffe Konrad ein. Die so genannte "Lügengeschichte" - Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee - ist eine seiner schönsten Auseinandersetzungen mit dem Erwachsenwerden.
Eigentlich ist Onkel Ringelhut auch noch ein Kind. Ein Relikt im Ausnahmezustand. Hut und Schnurrbart sind lediglich Alibi-Requisiten. Die Hausaufgabe seines Neffen, einen Aufsatz über die Südsee zu schreiben, regt Ringelhuts schöpferisches Talent an und bringt seine Phantasie auf Hochtouren: "Du hast zwar keine Phantasie, mein Lieber, doch du hast mich zum Onkel, und das ist genauso gut. Wir werden deinem Herrn Lehrer eine Südsee hinlegen, die sich gewaschen hat." Daraufhin steigt er mit dem Neffen in einen Holzschrank.
Szenenwechsel. Der Schrank öffnet sich. In einer Gratwanderung zwischen Traum und Realität, zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, begeben sich die beiden auf die Suche nach der Südsee und landen gleich in der ersten Szene des Stücks im Schlaraffenland. Von einer "verkehrten Welt", in der die Kinder böse Eltern zur Freundlichkeit erziehen, durch mittelalterliche Hoftradition, bis hin zum Hightech-Chaos des Dritten Jahrtausends, erleben Onkel und Neffe nahezu alles, was sich der Mensch erträumen kann.
Violeta Dinescu hat sich, gemeinsam mit Ringelhut und Konrad, in ihrer gleichnamigen Kinderoper in einer musikalischen Traumwelt auf die Suche nach phantasievoller Exotik begeben. Ihr Stück ergänzt das Kästner-Märchen durch intuitive Rhythmen, intensive Klangmalerei und eine Vielfalt an Farben, Schattierungen, Ecken und Kanten. Mit der zeitgenössischen Oper Der 35. Mai hatte die 1953 in Rumänien geborene Komponistin erst letzte Spielzeit an der Wiener Staatsoper einen großen Wurf gelandet und nicht nur halbwüchsige Melomanen verzaubert.
Vor einer Woche hatte das Stück im optimalen Rahmen des Centre des arts pluriels in Ettelbrück Premiere. In einer großen Koproduktion hatte das Théâtre National du Luxembourg die deutsche Regisseurin Angela Bürger gebeten, das Stück in Szene zu setzen.
Die Musik von Violeta Dinescu ist für Kinder wie für Erwachsene zum Greifen nahe. Das Stück wirbelt die Kästner-Figuren ohne Tempolimit mit kindlicher Ausgelassenheit und geist-reicher Naivität durch eine einzigartige Phantasiekulisse. Mit der süffigen Romantik eines Engelbert Humperdinck mit seiner Wagner-orientierten Oper Hänsel und Gretel hat Violeta Dinescu nichts am Hut. Dabei schafft die komplex gestrickte Partitur - mit Bravour und Dynamik von Camille Kerger und dem KammerMuseksVeräinLëtzebuerg (KMVL) umgesetzt - eine erstaunlich intensive Atmosphäre. Das Ensemble mischt die exzentrischen Farben geschickt zusammen und schafft mit ungewohnten Orchesterkombinationen wie Cembalo und Xylophon, Harfe und Trompete mysteriöse Spannung, dann an Hand vorbarocker Madrigalstrukturen höfische Festlichkeit und in so mancher Tutti-Szene regelrechtes Chaos.
Die phantasievolle Inszenierung wurde Dank der erstaunlichen Professionalität, mit Camille Kerger am Pult, der Regisseurin Angela Bürger und den Workshop-Leitern zu einem einstimmigen Erfolg. Musikstudenten und angehende Opernsänger wie Dani Sales als Konrad, Thomas Burger als Ringelhut, Carlo Migy als Pferd Negro Caballo, Patricia Früres als Babette oder Noemie Sünnen als Südseeprinzessin Petersilie konnten in den anspruchsvollen Partien überzeugen. Dabei wurde der Workshop-Gedanke des Projekts mit der jugendlichen Unvoreingenommenheit des Ensembles weder vernachlässigt, noch in den Hintergrund gedrängt.
Weitere Termine: heute um 14 Uhr, morgen Samstag, den 16.3. um 19 Uhr und am Sonntag, den 17.3. um 17 Uhr; Bestellungen über Telefon 26 81 21 304.