Man wähnt sich im tiefsten Transsylvanien, die Wolfshunde des Grafen Vlad Dracul des Pfählers auf den Fersen. "Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag im tiefen Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das grosse Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Land-strasse zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor".
So beginnt Franz Kafkas 1922, zwei Jahre vor seinem Tod, geschriebenes Romanfragment Das Schloss, das 1926 posthum und gegen seinen Willen veröffentlicht wurde. Mit seinem Nachwort leitete der langjährige Freund Kafkas und Herausgeber seiner Werke, Max Brod, eine nicht abreißende Kette von Interpretationen ein, deren Rahmen er selbst vorgab. Das Schloss mit seinen undurchsichtigen Beamtenhierarchien und unentzifferbaren Machtstrukturen stelle das göttliche Walten in der Welt dar, die vergeblichen Bemühungen K.'s um Einlass und Bleiberecht zeige die Inkommensurabilität menschlichen Ermessens mit dem göttlichen Schicksalsplan, schrieb Brod.
Angesichts der aufkommenden faschistischen und nationalsozialistischen Parteien in den Zwanzigerjahren hoben andere Kommentatoren in dem Roman Kafkas die literarische Auseinandersetzung mit den trügerischen Assimilationsbestrebungen der europäischen Juden hervor. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren kam es dann in Mode, Kafkas Schloss und den vorangegangenen Roman Der Prozess je nach dem als literarische Analyse oder Prophezeiung des Totalitarismus zu lesen.
Frank Hoffmann, der sich gerade bei den Proben zu dem Theaterstück K. nach Motiven von Kafkas Schloss befindet, nickt nachdenklich. "Man findet durchaus diese metaphysischen Aspekte bei Kafka. Natürlich war Kafka auch ein jüdischer Schriftsteller und Beobachter seiner Zeit, und die eindringliche Be-schreibung der obskuren Verwaltungsmaschine lässt den Schluss zu, dass hier eine Diktatur dargestellt werden sollte. Aber wir wollen einen anderen Aspekt von Kafka freilegen, das Allgemein-menschliche, zum Teil auch Groteske seiner Figuren betonen. All diese misslungenen Versuche, Anerkennung bei den Schlossherren zu erwirken, erinnern mich an Chaplins tragisch-komische Figuren, die immer wieder straucheln und von neuem beginnen. Sogar die vielen extrem direkten oder schnittartig kurzen Dialoge lassen noch an Filmsequenzen denken."
Der Gedanke, Kafka auf Gemeinsamkeiten mit Chaplin hin zu überprüfen, liegt nahe. Zwar hat Kafka Chaplins Film The Kid wenn überhaupt, dann erst wenige Wochen vor seinem Tod 1924 in Berlin gesehen. Aber er war ein begeisterter Kinogänger, solange seine Gesundheit es zuließ. Eine Postkarte an Brod, bei dem er sich über seine Arbeit als Assekuranzbeamter beklagt, hat "die humoristische Form eines vorgeahnten Chaplinfilms", wie Brod bemerkt. Sie zeigt tatsächlich eine Wesensverwandtschaft in der Konstruktion von absurden Situationen. Dort heißt es: "In meinen vier Bezirksmannschaften fallen (...) wie betrunken Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinaufgibt, das stürzt hinunter, was man hinuntergibt, darüber stürzt man selbst".
Charlie Chaplins Modern Times werden hier skizzenhaft vorweg genommen. K.'s ziellose Grübeleien wiederum, mit denen er in einer ihm feindlich entgegentretenden Um-welt wenn schon keinen Sinn, dann doch Methodik und Berechenbarkeit zu entdecken unternimmt, verweisen sowohl auf Chaplins underdogs als auch auf Kafkas eigene hoffnungslosen Anstrengungen, sich in den Niederungen des Alltags zurecht zu finden. In einer Tagebucheintragung hält er sein Unwissen darüber fest; "Wie es sich mit den Dingen eigentlich verhält, die um mich wie ein Schneefall versinken, während vor anderen schon ein kleines Schnapsglas auf dem Tisch fest wie ein Denkmal steht."
"Franz Kafkas Sprache", so Frank Hoffmann, "ist faszinierend klar, transparent, kristallen, von jedem Ballast befreit. Aber unter der Sprache lebt auch das Pulsierende, das anrüchig Leidenschaftliche, zum Beispiel in den derben Schilderungen der Liebesnacht zwischen K. und Frieda, inmitten von Bierpfützen unter einem Tisch in einer Dorfschänke. Die Frauen sind sehr sinnlich gezeichnet, und K. ist ja auch jemand, der sich allerhand herausnimmt. An Frechheit, um zu seinem Ziel vorzudringen, fehlt es ihm nicht gerade.
Er ist eben nicht nur das unglücklich leidende Opfer, sondern auch derjenige, der vorwärts drängt. Und dabei eine gehörige Portion Unverfrorenheit zeigt. Kafkas Sprache drückt komplexe Spannungen und hoch dramatische Momente aus. Und es gibt andere Augenblicke, da sprechen seine Figuren mit ausgesuchter Höflichkeit, fast schon mit Noblesse zueinander. So gesehen glaube ich auch nicht, dass man Kafka vorwerfen kann, er habe seine Figuren zu sehr modellhaft, unpersönlich, charakterlos entworfen. Wäre das der Fall, dann liessen seine Akteure weniger Vielschichtigkeit, weniger Vieldeutigkeit, Verschiedenartigkeit erkennen."
Tatsächlich ist die Persönlichkeit K.'s differenzierter angelegt, wie Brod das in seinem Nachwort wahrhaben wollte. K. ist nicht nur ein um Entgegenkommen ringender Wicht, sondern auch ein aufgeblasener Wichtigtuer. Dem Wirt, der ihn widerwillig beherbergt, bedeutet er mit gnädiger Herablassung: "Nur auf eines will ich Sie noch aufmerksam machen; ich habe im Schloss wertvolle Verbindungen und werde noch wertvollere bekommen". Das ist glattweg gelogen, denn der ganze Roman ist ein einziger vergeblicher Versuch, in fortgesetzten Anläufen sich Zugang zum Schloss zu erbitten.
Als Landvermesser, bestallt vom Grafen, stellt K. sich fälschlicherweise vor und ist dann einige Romanseiten später selbst erstaunt darüber, dass man ihm offiziell mitteilt: "Sie sind als Landvermesser aufgenom-men, wie Sie sagen; aber leider, wir brauchen keinen Landvermesser. Es wäre nicht die geringste Arbeit für ihn da." Und auch seine Liebe zu Frieda entspricht einem einfachen Kalkül: Er erwartet von ihr, dass sie ihm den Weg ebnet zu Klam, einem der allmächtigen Sekretäre in dem Schlossgewölbe. Als Klam ihn mit Frieda überrascht, denkt K. fieberhaft nach: "Was war geschehen? Wo waren seine Hoffnungen? Was konnte er nun von Frieda erwarten, da alles verraten war?"
In seinen ebenso verzweifelten wie grotesken Versuchen, Anerkennung zu finden, Anlehnung auch, lässt sich K. in seiner Dramatik des Willens und des Scheiterns auch "aktualitätsbezogen im Umgang mit den Widersprüchen des Lebens" (F. Hoffmann) nachvollziehen. "Vielleicht", so Frank Hoffmann, "zeigt Das Schloss die Menschheit und den Menschen, der sich mit all seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten aufmacht, seinen Platz in der großen Menschheit einzunehmen." In Transylvanien und überhaupt.
K. von Frank Feitler und Frank Hoffmann, nach Franz Kafkas Romanfragment Das Schloss; Inszenierung: Frank Hoffmann; mit: Ulrich Gebauer (K.), Jutta Avrat, Tim und Tom Hensgen, Pol Hoff-mann, Marco Lorenzini, Anne Moll, Marie-Paule von Roesgen, Konstantin Rommelfangen, Nina Sengstschmid, Serge Tonon, Mireille Wagener und Thier-ry van Werveke; Bühne und Kostüme: Jean Flam-mang; Musik: René Nuss; Licht: Zeljko Sestak; Dramaturgie: Frank Feitler; Regiemitarbeit: Jacqueline Posing; Produktionsleitung: Frank Hoffmann und Gaby Stehres; eine Koproduktion des Théâtre national du Luxembourg und der Ruhrfestspiele Recklinghausen; Premiere im Forum des Campus Geesseknäppchenam am Freitag 9. März; weitere Vorstellungen am 10., 14., 15., 16., 21., 22., 23. und 24. März jeweils um 20 Uhr. Kartenvorbestel-lung über Telefon 26 44 12 70