Manchmal geraten Dramatiker in Vergessenheit. Einfach so. Und plötzlich, Jahrzehnte später, kommt einer, meist ein Sprachwissenschaftler oder ein Regisseur, und versucht, sie zu rehabilitieren, ihr Werk wieder zu beleben. So geschah es kürzlich August Stramm (1874-1915), Postbeamter, der es bis ins Reichspostministerium und in der preußischen Armee bis zum Hauptmann brachte. 1915 starb er an der Front.
Stramm schrieb beeindruckende Gedichte, die in der Zeitschrift Der Sturm veröffentlicht wurden und deren knappe, karge Sprache, ihre Reduktion auf das Wesentliche, damals revolutionär war und als Wegbereiter des Expressionismus gilt. Generationen von Dichtern, von Kurt Schwitters bis Ernst Jandl, beriefen und berufen sich noch auf Stramms Lyrik. Seine Lautpoesie, die auch heute noch vorgetragen wird, wirkt noch immer radikal. „Aha, Avantgarde!“ freute man sich demnach bei der Ankündigung des Grand Théâtre, Jean-Paul Raths brächte mit Rudimentär eines von Stramms vergessenen Dramen auf die Bühne des Kapuzinertheaters. Und dann das!
Es fing ja noch schön an: Einführung in Text und Gesang in Stramms „Leben und Wirken“ eine Stunde vor Anfang der Aufführung, dann ein Schwarz-weiß-Film auf hauchdünner Leinwand, in dem Nikos Welter behutsam die drei Figuren des Stückes in historisches Bildmaterial vom Anfang des 20. Jahrhunderts einmontierte, Sprünge, Fehler und Risse einbegriffen. Sebastian Huber begleitet den Stummfilm am Klavier. Doch dann: der Vorhang fällt – und was sich dem Blick preisgibt ist entsetzlich. Ein Bühnenbild wie im schlimmsten Dorftheater, ein Bett, Eiche massiv, ein Ofen, ein paar Kleider an einer Wäscheleine. Die Wände sind mit Zeitungen tapeziert. „Dachzimmer; links das Fenster, rechts die Tür. Die hintere Wand schrägt in halber Höhe zur Decke. Die Tapete hängt in Fetzen herab“, steht in den Regieanweisungen, und Gitti Scherer hat das alles genau so umgesetzt. Ehrfurcht vor dem Schriftsteller ist angesagt. „Er“ und „sie“ liegen sprachlos im Bett. Natürlich in lächerlicher Kleidung, denn es geht ja darum, Stramm und sein Werk wieder zu entdecken.
„Er“ (Nickel Bösenberg) und „sie“ (Susan Ihlenfeld) also, arme Schlucker im Berlin der Vorkriegszeit. Sie leben elendig, haben keine Arbeit, nichts zu essen, keine Kohle mehr für den Ofen. Ihre Wohnung teilen sie mit einem Chauffeur (Pitt Simon), „Schlafgänger“, erklärt das Programmheft, seien damals üblich gewesen, um sich ein paar Mark hinzu zu verdienen. Und was machen die armen Leute, die sich nicht mal Worte leisten können, um die Welt zu erfassen: Sie „kloppen“ sich, und zwar in schönstem Berlinerisch. Das ist das ganze Stück. Also „er“ und „sie“ und „der Chauffeur“ hauen sich ordentlich was auf die Fresse. Grundlos, schonungslos. Das ist Jean-Paul Raths’ einzige Regieidee, sein Konzept: Armut macht dumm und brutal, also los. Ein Kampfchoreograf hat eigens die Schläge mit den Schauspielern einstudiert, und sie fallen auch ganz eindrucksvoll durch die Wohnung, wenn sie schlagen und geschlagen werden.
Doch dieser ganze Naturalismus verdeutlicht nur umso mehr, wie menschenverachtend, wie unausstehlich das Stück ist. August Stramm beschreibt das Elend, das materielle wie das intellektuelle, von rechts, von oben, nicht von unten und von links. Die Armut, die er beschreibt, frisst ihre Kinder – der Tod des Säuglings ist kaum mehr als eine Randnotiz in ihrem von Gier und Missgunst getriebenen Alltag – und vielleicht findet er sogar, dass sie selbstverschuldet ist („er“ sagt, er wolle nicht arbeiten). Die Tatsache, dass „er“ auf dem Zeitungsfetzen an den Wänden neue, ihm unbekannte Wörter zu entziffern und verstehen versucht, ist Stramm nur Spott wert. Vielleicht hätte Rudimentär ein Stück zu den Grausamkeiten des Neoliberalismus sein können – mit etwas mehr Distanz und einer spannenderen Inszenierung. So ist es einfach nur schlecht. Manchmal geraten Dramatiker in Vergessenheit. Vielleicht sollte man es dann auch dabei belassen.
Janine Goedert
Kategorien: Theater und Tanz
Ausgabe: 02.11.2012