Jérôme, 12, kann nicht still sitzen. Schreibt die Klassenlehrerin eine Hausaufgabe an die Tafel und bittet die Kinder, sie abzuschreiben, rutscht er auf seinem Stuhl hin und her – Minuten später hat er die Aufgabe noch immer nicht in sein Heft geschrieben. Dass Mitschüler ihn drängeln, weil sie in die Pause wollen, macht es nicht besser. Dann wird er noch nervöser und manchmal aggressiv. Jérôme hat ADHS. Weil seine Lehrerin sich über sein Krankheitsbild informiert hat, von Kollegen, schulpsychologischem Dienst und Schulleitung unterstützt wird, kann der Junge an der Schule bleiben – trotz seines oftmals auffälligen Verhaltens. Bei anderen klappt das nicht. Sie gelten als zu auffällig, stören den Unterricht, prügeln sich auf dem Schulhof. Sie werden verwarnt, aber spätestens wenn diese Warnungen nicht fruchten, bleibt als letztes der Verweis auf eine andere Schule.
Diese könnte demnächst am Itzegerstee sein. „Es ist keine eigenständige Schule, sondern eine schulische Struktur“, präzisiert Pia Burelbach. Sie betont das, weil sich das Pilotprojekt im ehemaligen Capel-Ferienhaus am Itziger Waldrand als Einrichtung neben der Regelschule versteht. „Wir nehmen den Schüler für eine Zeit aus seiner Schule heraus, damit er wieder zu sich kommt.“ Pia Burelbach und Dany Barthel, die Initiatorinnen des Projekts, sind überzeugt: „Viele durchlaufen eine schwierige Episode im Leben, die zu überwinden sie lernen können.“ Ihr Angebot, das sich an elf- bis 15-jährige Jungen und Mädchen richtet, orientiert sich inhaltlich an den Stundenplänen der Grundschule und des unteren Zyklus im technischen Sekundarunterricht. Hinzu kommen verhaltenstheoretische Methoden, wie ein klarer Regelkatalog, um unkonzentrierte Schüler zum Lernen zu motivieren. Dafür steht dem Team eine Diplompädagogin sowie Erzieher zur Seite. „Sie sitzen nicht mit im Unterricht, sind aber vor Ort und können jederzeit intervenieren“, erklärt Dany Barthel.
Eine aufwändige Betreuung, die schon aus Kostengründen – das Projekt ist bislang mit rund 100 000 Euro veranschlagt – sorgfältig überlegt sein will. „Wir verstehen uns als ultima ratio“, betont Barthel. Zu ihr kommt, bei dem die Regelschule nicht weiter weiß, das heißt, bei dem der von der Commission d’inclusion scolaire (Cis) erlassene individualisierte Lehrplan (in der Grundschule), beziehungsweise die Mosaikklasse oder andere Projekte des schulpsychologischen Dienstes (in der Sekundarschule) nichts genützt haben. Empfiehlt die Cis eine Überweisung in die Itzigerstee prüft das Team um Diane Barthel, ob der Schüler in die Gruppe passt. Gründe für eine Aufnahme können Hyperaktivität, Aggressivität oder Konzentrationsschwäche sein, aber auch die stillen Lernschwachen sollen hier Hilfe finden. Zwölf Schüler sollen im ehemaligen Ferienhaus unterkommen. Neben Klassenzimmern gibt es einen Beratungsraum für Elterngespräche. „Eine enge Elternarbeit ist für uns zentral“, betont Pia Burelbach. Auch ein so genannter Time-out-Raum für Kinder, die in eine Krise geraten, sowie ein Raum zur psycho-medizinischen Betreuung. Maximal zwei Jahre bleiben die Schüler. Wenn alles gut geht, sollen sie spätestens dann in ihre alte Schule zurückkehren, die überdies ihre Zeugnisse ausstellt.
Obwohl der reguläre Unterricht erst im Januar beginnen soll – das Team feilt noch am Konzept, die Umbauarbeiten sind im Gange – das Projekt Itzegerstee stößt auch auf Kritik. Behindertenrechtsorganisationen warnen davor, schwierige Schüler zu stigmatisieren. Die Behindertenrechtskonvention, die Luxemburg vor zwei Jahren ratifiziert hat, sichert allen Schülern, auch denen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten, zu, die Regelschule zu besuchen.
Zwölf Plätze für verhaltensauffällige Schüler klingt nicht üppig. Ihre Zahl steige, nicht nur in Luxemburg, wird allgemein gerne behauptet. Fragt man jedoch bei den zuständigen Ministerien um konkrete Daten, erntet man Achselzucken. Die Zahl der von der Éducation differenciée betreuten Kinder ist relativ stabil. Nach einem kurzen heftigen Anstieg im ersten Jahr nach der Grundschulreform schwankt sie nun um 650 Kinder, dazu zählen Schüler, die in spezialisierte Schulen, etwa für Blinde oder Sprachprobleme, gehen.
Insgesamt 488 Kinder in Grund- und Sekundarschule wurden 2011 von den so genannten Équipes multiprofessionnelles betreut. Luxemburg-Stadt und Esch haben eigene Dienste, die Statistiken bilden also allenfalls einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab. Zudem sind sie undifferenziert: Die Gründe für die Extrabetreuung reichen von leichter Dyslexie über Konzentrationsschwierigkeiten, bis hin schweren Verhaltensauffälligkeiten oder regelrechten Behinderungen. Eine Anfrage bei der Jugendpsychiatrie, ob in Luxemburg mehr Kinder als früher psychiatrisch betreut werden, führt ebenfalls in die Leere: So schnell könne man die Zahlen nicht besorgen.
Im Gegensatz zu früher, als das Lehrpersonal mit schwierigen Schülern irgendwie umgehen mussten – oft mehr schlecht als recht –, haben Zappel-Philipp, Schnatterliese und Hans-guck-in-die-Luft heutzutage zumindest eine gewisse politische Aufmerksamkeit. Vor allem hyperaktive Kinder stehen im medialen und politischen Fokus, unter anderem wegen der rasant gestiegenen Verschreibungen an Ritalin, einem Medikament mit stimulierender Wirkung, das bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADS/ADHS) verabreicht wird. „In Luxemburg bekommen etwas weniger als 20 Prozent der Kinder, die ADHS haben, Ritalin“, kontert der Neurologe Robert Thill-Heusbourg alarmierte Meldungen, Hibbelkinder würden übermedikamentiert. „In Luxemburg herrscht, wie übrigens auch in Deutschland, eine Unterversorgung.“ Dass neuerdings mehr Kinder mit ADHS gemeldet würden, liege an der gestiegene öffentliche Wahrnehmung und an der verbesserten Diagnostik. „Früher wurden diese Kinder einfach nicht bemerkt“, ist Thill-Heusbourg überzeugt.
Auch Schulen thematisieren verstärkt Hyperakitivität. Kaum ein Pädagoge, der nicht von einem zappeligen Schüler oder einer unkonzentrierten Schülerin zu berichten weiß. Die meisten kommen irgendwie mit oder werden bis zum Ende der Grundschule mitgezogen – bis das böse Erwachen kommt. Bei anderen ist das Lehrpersonal mit seinem pädagogischen Latein früher am Ende.
Rund 168 Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten nicht nur ADHS – wurden im vergangenen Jahr im Ausland betreut. Ihre Zahl zu senken, ist das Ziel, an dem Familien-, Gesundheits- und Unterrichtsministerium seit etwas mehr als einem Jahr gemeinsam arbeiten. Kinder, die ins Ausland geschickt werden, entwickeln sich dort dank der professionellen Betreuung häufig besser, der Aufenthalt bedeutet aber auch, dass sie aus ihrem sozialen und sprachlichen Umfeld daheim herausgerissen werden – und später schwer wieder Anschluss finden.
In einem zweiten Schritt, nach dem Aufbau einer stationären und ambulanten Psychiatrie für schwer verhaltensauffällige Jugendliche soll auch die Anzahl der therapeutischen Betreuungsplätze wachsen. Das Kinderhaus Jean in Berg wird ausgebaut und erhält zusätzlich zum ambulanten und semistationären Angebot ein angegliedertes Internat für zwölf Kinder. „Damit die problematischsten Fälle, wenn nötig, auch rund um die Uhr betreut werden können“, erklärt Nico Meisch von Familienministerium. Weitere Therapieplätze sind im Kannerschlass Suessem geplant. Derzeit wird nach einem geeigneten Bauplatz gesucht.
Doch all diese Anstrengungen dürften der berühmte Tropfen auf den heißen Stein bedeuten. Die Schule am Itzegerstee bietet Platz für zwölf Kinder, zu wenig, um den Bedarf zu decken, glaubt man Stimmen aus Inspektorat, pädo-psycho-sozialer Kommission und schulpsychologischem Dienst; betrachtet man allein die Auslandsüberweisungen, scheint der Bedarf enorm.
Doch Vorsicht ist angebracht: nicht nur, weil in Luxemburg auf viele Fragen schnell mit neuen, konzeptuell nicht immer gut durchdachten Einrichtungen geantwortet wird. Die Frage ist, inwieweit die Kinder tatsächlich problematischer geworden sind oder die Erwachsenen intoleranter, respektive was sie problematisch macht. 118 Conseils de discipline zählte das Unterrichtsministerium für das Jahr 2010. Ein Jahr zuvor waren es 147, zwei Jahre zuvor 125. Bei 235 Kinder musste im Jahr 2008-2009 der schulpsychologische Dienst direkt eingreifen, so ist aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Frühjahr 2010 zu erfahren. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, das Unterrichtsministerium ermittelt schulische Disziplinarvorfälle nicht systematisch.
Auch Nico Meisch hat „keine genauen Daten“, ist sich aber aufgrund der Anfragen beim Office na-tional de l’enfance sicher, dass Verhaltensprobleme bei Kindern zunehmen. Der Berater im Familienministerium sieht dafür mehrere Ursachen. „Die Kinder sind entwurzelter, die Familien brüchiger.“ Der Bevölkerungsschub durch die Einwanderung in den vergangenen Jahren ist enorm, es gibt Grundschulen, in denen 70 Prozent der Schüler nicht-luxemburgischer Herkunft sind. Viele, vor allem portugiesische Jungen und Mädchen, haben Eltern, die selbst nicht gut in der Schule waren, die zudem beide arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Das ist keine neue Entwicklung, aber noch immer scheint diese Realität nicht überall angekommen zu sein. Wie wichtig für diese Kinder eine frühe, hoch qualitative differenzierte Betreuung ist, damit auch sie eine faire Chance auf Bildung und später auf dem Arbeitsmarkt erhalten, mahnen Bildungsexperten seit Jahren. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Zumal Denkverbote existieren: Das Lehrpersonal in den 153 Luxemburger Grundschulen ist überwiegend weiblich. Es ist eine Tatsache, dass viele Einwandererkinder aus patriarchalischen Familien stammen. Fast jeder Inspektor hat damit verbundene Rollenkonflikte selbst erlebt oder gehört: Lehrerinnen, die im Elterngespräch die weitere Vorgehensweise mit dem Vater abklären wollen, weil der Sohn im Unterricht kaum zu bändigen ist. Die dann aber feststellen müssen, dass der Vater offenbar nicht damit umgehen kann, von einer weiblichen Person Ratschläge zu erhalten. „Die Kinder brauchen positive Rollenvorbilder, von Frauen und Männern“, sagt Arzt Robert Thill-Heusbourg. Solange die Einstellungspolitik des Staates unverändert bleibt, wird sich das Geschlechterverhältnis indes kaum wandeln: Im Examen schneiden Mädchen seit Jahren besser ab als ihre männlichen Klassenkameraden. Es sind vor allem Jungen, die Lernprobleme haben – und bereiten. Eine Konferenz über Jungenpädagogik der Uni Luxemburg befasste sich kürzlich mit der wachsenden Schere zwischen den Geschlechtern. Aber systematische Schulungen in Interkulturalität und geschlechtersensibler Pädagogik sind in der Lehrer- und Erzieherausbildung nach wie vor Mangelware.
Doch offenbar wächst das Bewusstsein um die Zeitbombe, die da tickt. Seit 2009 steigt die Zahl der Einschreibungen bei den Grundschullehrerfortbildungen „Sozialkompetenzen und Verhaltensschwierigkeiten“: von 428 im Jahr 2009 auf 680 im Jahr 2012. Von den 152 Schulen, die einen Schulentwicklungsplan haben, hat jede vierte das Themenfeld Gewalt und Schulklima gewählt. Im Sekundarschulbereich scheinen die Lehrer die Dringlichkeit aber nicht im selben Maße zu sehen, dort hatten sich in den vergangenen drei Jahren insgesamt 866 Lehrkräfte für eine solche Weiterbildung angemeldet, Tendenz sinkend.
„Ich bin dagegen, vom Lehrer alles zu erwarten“, warnt indes Dany Barthel. Die Lehrerin hat eine verhaltenstherapeutische Zusatzausbildung, schließt aber nicht aus, auch mal psychiatrischen Rat für ihre Schüler von außerhalb anzufragen. Bei ihrer Tour durchs Land hätten sie und ihr Team viele „tolle Projekte“ kennengelernt, mit denen Schulen schwierigen Schülern unter die Arme greifen, etwa die Classes mosaïques im unteren technischen Sekundarunterricht. „Leider sind viele Angebote oft an eine oder mehrere Personen gebunden. Gehen sie fort, ist damit nicht selten das Ende des Projekts verbunden.“ Sie und ihre Kolleginnen hoffen, dass ihr Projekt über ihren Einsatz hinaus Bestand haben wird. „Diese Kinder brauchen Hilfe“, mahnt Pia Burelbach. „Ob von uns – oder von anderen.“
Ines Kurschat
Catégories: Politique de l'éducation
Édition: 26.10.2012