Die EU und die Türkei verhandeln seit acht Jahren um einen Beitritt. Das sind die längsten Beitrittsverhandlungen der EU-Geschichte. In jedem Prozess, der so lange dauert, entstehen Rituale. Zwischen der Brüssel und Ankara besteht dieses Ritual aus der Veröffentlichung der jährlichen Fortschrittsberichte und den Reaktionen aus der Türkei darauf.
Fortschrittsberichte der EU sind technische Berichte, die besagen, wie weit ein Beitrittskandidat seine Hausaufgaben in einem Jahr gemacht hat. Sie sollen für das beitrittswillige Land ein Wegweiser für die Zukunft sein. So auch im Falle der Türkei.
Doch in den vergangenen Jahren kam eine zusätzliche Funktion dazu: Sie dienen beiden Seiten als Grundlage politischer Schlammschlachten. Europäische Politiker kritisieren bei dieser Gelegenheit mit offensichtlichem Genuss die Türkei und umgekehrt beschimpfen türkische Politiker die EU.
Doch der Fortschrittsbericht 2013, der am 16. Oktober veröffentlicht wurde, stellt eine Ausnahme dar. Sowohl in Brüssel und als auch in Ankara ist Bewegung zu spüren. Zum ersten mal seit Jahren fanden EU-Berichterstatter, wenn auch schwach, lobende Worte für die Leistung des schwierigen Kandidaten. Vor allem werden das so genannte „Demokratiepaket“, das längst fällige politische Reformen beinhaltet, und die Bemühungen der Regierung Erdogan, mit den Kurden Frieden zu schließen, positiv bewertet. Diese seien „eine Bestätigung dafür, dass die Regierung ihren Willen zur mehr Demokratie und politische Reformen aufrechthält“.
Im Einklang mit dieser Einschätzung beschlossen europäische Politiker, die bisherige Politik der totalen Blockade aufzugeben. Vor allem die sozialistische Fraktion im Europäischen Parlament, aber auch liberale und grüne Politiker freuten sich über die neuen Töne aus Brüssel. Der sozialistische Abgeordnete Richard Howitt betonte, „wie extrem der Druck zwischen Ankara und Brüssel war“, und rief beide Seiten auf, aus den Erfahrungen zu lernen. Der Wunsch konservativer Politiker die Beitrittsgespräche, endgültig zu beenden, wurde zurückgewiesen. Ebenso die Proteste aus Nicosia. Nun werden zwei weitere Verhandlungskapitel aufgemacht und so der Weg für die Fortführung der Beitrittsverhandlungen nächstes Jahr geebnet. Sie waren 2010 zum Stillstand gekommen, weil die zypriotische Regierung acht und die damalige französische Regierung unter Präsident Sarkozy fünf weitere Kapitel, unter Beifall mehrheitlich konservativer Politiker, blockierten.
Gleichzeitig sehen sich die Regierungsvertreter in Ankara gezwungen, ihre Anti-EU-Rhetorik der letzten Jahre, die sie stets mit der Blockadehaltung der EU begründeten, einzuschränken. Regierungsvertreter und regierungsnahe Medien des Landes versuchen jetzt diese rhetorische Wende hinzubekommen, auch wenn es ihnen schwerfällt.
Der Europaminister Egemen Bagis, der noch kurz vor den Bundestagswahlen in Deutschland über das zukünftige Rentnerleben der Bundeskanzlerin Angela Merkel neben dem abgewählten französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy sinnierte, bemüht sich um eine zurückhaltende Bewertung des Fortschrittberichts. Da in dem Bericht der türkische Staatspräsident Abdullah Gül für seine kompromisssuchende Haltung während der Massendemonstrationen im Sommer in Istanbul im EU-Bericht gelobt wurde, betont Bagis lediglich, auch der Ministerpräsident „stets kompromissbereit“ gewesen sei.
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan selbst hielt sich nach der Veröffentlichung des Fortschrittberichts der EU zunächst zurück. Erst Wochen später, während einer Rede vor der Parlamentsfraktion seiner Partei AKP, äußerte er sich: „In diesem Bericht hätten wir gerne auch eine Kritik der unwilligen und hinhaltenden Haltung der EU gesehen. Offen gesagt : Nach den Ereignissen in Syrien und Ägypten ist es für die EU-Kommission unerlässlich geworden, einen Fortschrittsbericht auch über die EU selbst zu schreiben. Ganz ehrlich, wir warten darauf, dass die EU, die beim Kritisieren von Beitrittskandidaten sehr großzügig vorgeht, Selbstkritik übt.“ Dass Erdogan seine Kritik gegen die EU auf die europäische Nahostpolitik beschränkt, wird in Ankara als „sehr zurückhaltend“ bezeichnet.
Die zögerliche Wende in den europäisch-türkischen Beziehungen ist ein Ergebnis der wochenlangen Proteste im Sommer in Istanbul. Ende Mai dieses Jahres führte eine gewalttätige Polizeiaktion gegen friedlich demonstrierende Umweltschützer am Gezi-Park zu einer Explosion der unterdrückten Gefühle kritischer Türken gegen ihre eigene Regierung. Trotz massiver Polizeigewalt hatten türkische Sicherheitskräfte es schwer, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht zum ersten Mal zeigten türkische Bürger Gesicht gegen einen autoritären Führungsstil und demonstrierten, dass sie die von der EU erwarteten Werte, wie Demokratieverständnis und soziale Toleranz, verinnerlicht haben.
Dies zwang die EU, offiziell anzuerkennen, dass der Demokratieprozess am Bosporus im direkten Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess steht. So schrieben die Autoren des Fortschrittsberichts, dass es wichtig sei, dass die EU mit der Türkei über fundamentale Rechte spreche. „Fortschritt bei den Beitrittsverhandlungen und Fortschritt in politischen Reformen sind zwei Seiten desselben Medaillons“, heißt es im EU-Bericht.
Nun ist es die türkische Regierung, die sich mit der neuen Lage schwer tut, obwohl sie seit drei Jahren diese Wende forderte. Denn in den kommenden zwei Jahren steht sie vor wichtigen Wahlen und fürchtet die politischen Folgen der Gezi-Proteste. Die Machthaber in Ankara realisieren, dass sie einerseits mit einer Anti-EU-Politik ihre eigene Basis besser bedienen können, aber andererseits eine offene Konfrontation mit der EU die Wutbürger der Gezi-Proteste weiter entfremden würde. Das könnte zum Verlust der absoluten Mehrheit der AKP führen.
Deshalb steht die Wende zunächst auf wackligen Füßen. Für einen Erfolg brauchen nun beide Seiten mutige Politiker, die bereit sind, den neuen Weg konsequent weiterzugehen. Bisher sind sie nirgendwo zu sehen.