„In den letzten Monaten war sehr viel in Bewegung“, fasste Marc Serres am Dienstag die Lage für die Luxemburger Weltraumindustrie zusammen. Der Beamte, im Forschungsministerium zuständig für Weltraumforschung, sprach mit dem Land am Rande eines Treffens, bei dem die größte Satelliten-Firma im Land, SES, eine öffentlich-private Partnerschaft mit der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) zur Entwicklung einer neuen Satellitenplattform bekanntgab. Serres’ Bemerkung bezog sich nicht allein auf den Vertragsabschluss mit der ESA, sondern darüber hinaus auf das seit 2008 geplante European Border Surveillance System, kurz Eurosur.
Vor gut einer Woche hat das Europäische Parlament mit 479 Ja-Stimmen, 101 Nein-Stimmen und 20 Enthaltungen grünes Licht für die Einführung eines der größten Grenzüberwachungssysteme der Welt gegeben. Eurosur, das noch vor dem Jahresende zum Einsatz kommen soll, könne Tragödien wie die Flüchtlingskatastrophe in Lampedusa vor zwei Wochen verhindern helfen und dazu beitragen, „dass kleinere Schiffe, die in Seenot geraten sind, schneller entdeckt werden und Hilfe geleistet werden können“, hatte die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström das Abgeordneten-Votum kommentiert.
Konkret soll Eurosur den Datenaustausch zwischen Grenzschutz, Polizei und Küstenwachen der Mitgliedstaaten sowie der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex verbessern, dies mit Hilfe von nationalen Koordinationszentren und eines engmaschigen Überwachungsnetzes entlang der rund 15 000 Kilometer langen EU-Grenzen, bei dem neben Satelliten, Radargeräten und Antennen zu Land mittelfristig auch Drohnen zum Einsatz kommen sollen. Statt mit Patrouillenbooten vor der Küste soll das Mittelmeer künftig aus der Luft und aus dem All nach verdächtigen Schiffen abgesucht werden.
„Ein riesiger Markt“, wie Marc Serres bemerkte, an dem Luxemburg seit einigen Jahren und mit wachsendem Erfolg versucht, sich Anteile zu erobern. So werden wichtige Schiffs- und Lagedaten für Eurosur unter anderem von zwei Luxemburger AIS-Satelliten gewonnen und über die Europäische Agentur für die Sicherheit im Seeverkehr (Emsa) an Frontex in Warschau weitergegeben, die die in Betzdorf ansässige Firma Luxspace entwickelt und gebaut hat. Mit 250 000 Euro habe die Europäische Union die Satelliten.Technologie AIS, die mittlerweile für Schiffe über 300 Tonnen verpflichtend ist und der Erkennung dient, vertraglich unterstützt, erzählt Luxspace-Geschäftsführer Jochen Harms dem Land.
Die Luxspace-Satelliten Vesselsat 1 und 2 sind wichtige Komponenten eines millionenschweren Forschungsprojekts der EU namens Perseus (Protecting European seas and borders through the intelligent use of surveillance), das verschiedene Überwachungssysteme miteinander vernetzen und so eine bessere, weil dichtere Überwachung der europäischen Grenzen und der Seewege der EU ermöglichen soll. Am 24. September, unter Leitung der spanischen Polizei Guardia Civil, wurde Perseus in Madrid Partnern, Geldgebern und Nutzern verschiedener Mitgliedstaaten vorgestellt, auch ein Vertreter von Luxspace war anwesend. Perseus ist ein wichtiger Baustein von Eurosur, das laut Kommission bis 2020 rund 244 Millionen Euro kosten wird. Eine Studie der grünen Heinrich-Böll-Stiftung schätzt die Gesamtkosten jedoch doppelt bis dreifach so hoch ein: auf annähernd 874 Millionen Euro.
„Der Luxemburger Staat ist mit zwölf Millionen Euro der größte Geldgeber“, erzählt Regierungsrat Pierre Decker nicht ohne Stolz. Diese Summe hat Luxemburg zur Entwicklung der AIS-Technologie beigetragen, die unter anderem bei Perseus und Eurosur zum Einsatz kommt. Decker leitet die Abteilung für internationale Zusammenarbeit im Forschungsministerium. Die Satellitenbranche ist einer der wichtigsten Innovations- und Wirtschaftsbereiche für Luxemburg, das mit SES eines von Europas Branchenschwergewichte beheimatet. Das Betzdorfer Unternehmen ist beim im Rahmen des Siebten EU-Forschungsrahmens geförderten Seeüberwachungsprojekt Perseus mit von der Partie, sowie bei I2C (Integrated system for interoperable sensors and information sources for common abnormal vessel behaviour detection and collaborative identification of the threat), ein weiteres EU-Forschungsprojekt im Bereich der Meeresüberwachung, das verschiedene Technologien (Satelliten, Radare, Landantennen, Zeppeline, Patrouillenboote) verbinden soll. Man habe vor allem Backbone-Satellitenanwendungen beigesteuert, heißt es seitens der SES.
Dass die Überwachungs- und Sicherheitstechnologien eine ernstzunehmende Sparte für Luxemburger Unternehmen sind, ist hierzulande vergleichsweise wenig Thema. Während in Bremen, wo die Luxspace-Mutterfirma OHB System AG ihren Sitz hat, Nichtregierungsorganisationen wie das Bremer Friedensforum die Aktivitäten der dortigen Rüstungs- und Weltraumindustrie genauestens unter die Lupe nehmen, scheint sich in Luxemburg kaum jemand dafür zu interessieren, welche Rolle Luxemburger Unternehmen in dem boomenden Hightech-Markt spielen.
Sie muss nicht per se negativ sein. Denn dieselbe Technik, mit der Brüssel die Flüchtlingsströme besser kontrollieren und die Grenzen noch strenger überwachen will, hilft womöglich im Kampf beispielsweise gegen Drogenschmuggel auf hoher See. Oder gegen Piraterie. „Es geht darum, ungewöhnliches Verhalten von Schiffen zu detektieren und so die zuständigen Behörden schnell ein möglichst präzises aktuelles Lagebild zu vermitteln“, erklärt Gerd Eiden von Luxspace. Algorithmen sollen helfen, dieses Verhalten automatisch zu erkennen. Das können plötzliche Kursänderungen, Wende- und Haltemanöver sein, aber auch das Abschalten der Radaranlage, etwa wenn Piraten einen Tanker kapern oder Schmuggler in einer Nacht- und Nebelaktion heiße Ware verladen. Es waren Daten von Luxspace, die dazu beitrugen, ein Frachtschiff unter Luxemburger Flagge, das vor fast genau einem Jahr vor den Küsten Nigerias entführt wurde, wiederzufinden. Durch das Bündeln unterschiedlicher Informationsquellen sei es technisch möglich, „Schiffe zu finden, auch wenn diese ihr AIS-Signal abgeschaltet haben“, sagt Ingenieur Eiden. Auch Umweltsünder, etwa Tanker, die Altöl verklappen, könnten mit Hilfe der Technologie aufgespürt werden.
Für die Ortung von Flüchtlingen, die das Mittelmeer meist mit kleineren Fischerbooten oder lebensgefährlichen Schlauchbooten zu überqueren versuchen, eignet sich die SAT-AIS-Technologie allerdings weniger. „Die erfassen unsere Satelliten in der Regel nicht“, sagt Luxspace-Geschäftsführer Jochen Harms. Zum einen sind die kleinen Boote meistens nicht mit der kostspieligen AIS-Technologie ausgetastet, zum anderen ist ihr Ziel, beziehungsweise das der Schlepper, ja gerade, möglichst unentdeckt zu bleiben.
Skeptiker bezweifeln, dass das Versprechen der Kommission, mit Eurosur Flüchtlingsströme besser zu überwachen und Leben zu retten, überhaupt einlösbar ist. Seit 2004 kamen laut der Flüchtlingsorganisation Festung Europa 6 200 Menschen bei Bootsunglücken ums Leben – und das sind nur diejenigen, deren Körper gefunden wurden. Die kleinen Boote zu erkennen, die ohne Radar auf dem Wasser treiben, ist eine kniffelige Angelegenheit. Luxspace arbeitet derzeit daran, wie man noch bessere Daten erhalten kann. Die nationale Agentur für Forschung und Innovation, Luxinnovation, kofinanziert eigenen Aussagen zufolge derzeit eine Machbarkeitsstudie des Betzdorfer Unternehmens mit 200 000 Euro. „Diese Studien sind der erste Schritt auf dem Weg zu Design und Entwicklung eines Prototyps“, sagt Patricia Conti, bei Luxinnovation für die Betreuung von Weltraumprojekten zuständig. Experten zufolge ist die lückenlose Überwachung der Seewege aber noch Zukunftsmusik.
Außerdem bedeutet eine verbesserte Überwachung der Fluchtwege noch lange nicht eine bessere Überlebenshilfe für die Flüchtlinge. Der entsprechende Passus in dem Regelwerk, das Europäisches Parlament und Europäischer Rat vergangene Woche verabschiedeten, sieht für Eurosur zwar ausdrücklich vor, „einen Beitrag zur Gewährleistung des Schutzes des Lebens und der Rettung des Lebens von Migranten zu leisten“. Aber es war vor allem auf der Druck der europäischen Grünen, dass die Seenothilfe überhaupt nachträglich als ein Ziel von Eurosur hinzugefügt wurde. Liest man das Kleingedruckte ist von Pflicht zur Hilfe nirgendwo die Rede. Auch fehlen Verfahren, die klären, wie diese geleistet werden soll. Die Seenothilfe, durch internationales Seerecht geregelt, obliegt den einzelnen Mitgliedstaaten. Bei Eurosur geht es vielmehr darum, dem Mitgliedstaaten über ein koordiniertes Netzwerk mehr Informationen von der Erde und aus dem All zuzustellen, die die Akteure von Küstenwache über Frontex-Agenten und Grenzschutz dann zur Rettung nutzen können – oder auch nicht. In der Vergangenheit wurde öfters beobachtet, dass andere Schiffe, sogar ein Nato-Helikopter und die italienische Küstenwache, um Hilfe funkende überladene Flüchtlingsboote einfach sich selbst überließen.
Kritiker bezweifeln daher, dass die Rettung von Flüchtlingen überhaupt gewollt ist – trotz hunderter Toter vor Lampedusa und den Betroffenheitsreden der EU-Politiker. In Italien existiert ein Gesetz, wonach Menschen, die ohne Erlaubnis italienischen Boden betreten, sich der „illegalen Einwanderung“ strafbar machen. Auch gegen die 155 Überlebenden des Unglücks auf Lampedusa wird ermittelt. Verheerende Folgen könnte zudem gehabt haben, dass sich Kapitäne der „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ strafbar machten, wenn sie Schiffbrüchige retten und an Land bringen. Das italienische Parlament will das Gesetz nun überdenken.
Besonders Linke und Grüne werfen den europäischen Regierungen und der EU-Kommission vor, mit Eurosur die Mauer um Europa nur noch enger zu ziehen und die Meeresüberfahrt für Flüchtlinge und Arbeitsmigranten noch schwieriger und womöglich gefährlicher zu machen. „Wir brauchen in Europa kein weiteres Flüchtlingsabwehrsystem, sondern ein Flüchtlingsrettungssystem“, sagte die migrationspolitische Sprecherin der Grünen, Ska Keller, nach dem Eurosur-Votum. Den einzigen Fortschritt, den sie im millionenteuren System erkennen mag: „Künftig wissen wir, wie viele Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa in Lebensgefahr sind. Denn mit Eurosur müssen die EU-Mitgliedsstaaten künftig Frontex über Flüchtlinge in Seenot informieren. Verbessern müssen sie die Menschenrettung aber nicht.“