Alle paar Jahre nach den Wahlen gibt es die gleiche Debatte über tatsächliche und vermeintliche Ungerechtigkeiten des Luxemburger Wahlsystems. Und jedes Mal passiert dasselbe, nämlich nichts. Im Mittelpunkt der Kritik: Die Einteilung des Landes in vier Wahlbezirke und die ungleiche Verteilung der Mandate zwischen den Bezirken. Wie alt dieser Streit ist, verdeutlicht folgendes Zitat: „Zwar mag man in der Vielheit der Bezirke eine größere Garantie für die Berücksichtigung der lokalen Interessen erblicken, aber in Verbindung mit der Ungleichheit der Kreise vereitelt diese Vielheit die reine Durchführung des wirklich gleichen Rechtes aller Wahlberechtigten.“ So stand es Anfang 1919 im Luxemburger Wort1. Fast hundert Jahre später sind wir keinen Schritt weiter. Auch der Entwurf für eine neue Verfassung lässt das Wahlsystem, wie es ist. Verständlich, dass sich Frustration aufbaut. Diesmal hat Robert Mehlen (ADR) öffentlichkeitswirksam, wenn auch sicher nicht uneigennützig, den Gang vor das Verfassungsgericht und gar den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angekündigt.
Kein Mensch weiß heute noch, wie die merkwürdige Einteilung der Wahlbezirke eigentlich entstanden ist. Darauf angesprochen, glauben fast alle Wähler, die meisten Politiker und selbst einige Fachleute, dass das irgendwas mit althergebrachter Tradition zu tun habe. Zu verantworten habe den ganzen Schlamassel, so vermutet man, daher wahrscheinlich die frühere Rechtspartei und heutige CSV, die vom aktuellen System ja auch unbestritten stark profitiert. Kürzlich behauptete sogar ein seriöser Historiker im Radio, die Wahlbezirkseinteilung rühre daher, dass die Konservativen damals „Elementer aus der Zäit vum Majorz (…), déi d’Virherrschaft vun der Rietspartei sollte festschreiwen“, durchgesetzt hätten2.
Doch mitnichten. Die Wahrheit lautet ganz anders. Es ist, zumindest für Verfassungshistoriker, eine spannende Geschichte. Eine Geschichte, die auch mit der bis heute ungelösten Frage der ausländischen Einwohner zusammenhängt. Es ist die Geschichte eines tragischen Missverständnisses. Und alle Probleme, die wir heute diskutieren, waren dabei von Anfang an völlig klar und bekannt.
Doch der Reihe nach. Erster Akt: Wir schreiben das Jahr 1918. Dass es eine Verfassungsreform geben wird, die das allgemeine Wahlrecht einführen soll, ist zu diesem Zeitpunkt im Prinzip beschlossene Sache. Wie das konkret aussehen soll, welches Wahlsystem man installiert, was in der Verfassung und was nur im einfachen Wahlgesetz geregelt wird, steht aber noch in den Sternen. Die Kammer diskutiert die großen Prinzipien, streitet heftig über Monarchie und Frauenwahlrecht. Die Regierung beauftragt unterdessen still und leise den Regierungsrat Nickels damit, ein Gutachten und einen Vorabentwurf für ein Wahlgesetz auszuarbeiten. Man will vorbereitet sein, denn es gilt viele technische Details zu klären. Alle möglichen Varianten werden in dem Bericht diskutiert und vorsichtige Empfehlungen ausgesprochen, ohne den parlamentarischen Beratungen vorzugreifen. Der Vorschlag, der im Sommer 1918 in der Schublade liegt, der Öffentlichkeit aber unbekannt ist, lautet, zwei Wahlbezirke einzuführen. Geografisch würden die auch gar nicht zusammenhängen: Esch soll dem Entwurf nach beispielsweise mit Clerf in einen Topf. Vielmehr sollen die Bezirke unter dem Gesichtspunkt möglichst ähnlicher Bevölkerungs- und Mandatszahlen festgelegt werden3.
Warum nicht ein Einheitsbezirk? Dafür gibt es handfeste Gründe. Die damalige Verfassung besagt in Artikel 56, dass nicht alle Abgeordneten auf einmal gewählt werden, sondern dass alle drei Jahre je eine Hälfte der Kammer erneuert wird. Blöderweise hatte in den Wirren der Ereignisse niemand daran gedacht, diesen technischen Artikel auch in die Prozedur zur Verfassungsreform aufzunehmen; er wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschafft. So fand man sich in der Situation wieder, dass ein Einheitsbezirk nur machbar gewesen wäre, wenn das ganze Land alle drei Jahre zu den Urnen gerufen worden wäre. Also favorisiert der Vorabentwurf die nächstbeste Lösung mit zwei Bezirken. Der Bericht thematisiert auch, dass die Bezirksgrenzen dabei anders zu ziehen seien, je nachdem, ob man die ausländische Bevölkerung mitzählt oder nicht. Doch es folgt gleich der Hinweis, „que c’est là une de ces questions que se rattachent intimement aux intérêts de tel parti politique et qu’elle sera résolue sous la poussée de considérations utilitaires“4.
Das sollte sich später noch als sehr wahr erweisen. Doch zunächst ein kurzes Entracte: Der Staatsrat, dem der Entwurf Ende 1918 zugeleitet wird, kritisiert die angedachte Wahlkreisaufteilung. Mit Verweis auf spezifische regionale Interessen empfiehlt er vier statt nur zwei Wahlbezirke. Glasklar erkennt der Staatsrat bereits damals, dass man damit das Prinzip der Verhältniswahl sabotiert: „Les restes de listes inutilisées seront, dans leur ensemble, plus grands.“ Allerdings hielt man das für einen „inconvénient d’ordre plutôt secondaire“5.
Soweit, so gut. Folgt der zweite, dramatischere Akt: Wir schreiben das Frühjahr 1919. Bislang war nur von Vorarbeiten zum einfachen Wahlgesetz die Rede. Alles sehr technische Zusammenhänge. Niemand hat bis zu diesem Zeitpunkt daran gedacht, der Frage der Wahlbezirke Verfassungsrang zu geben. Die Regierung hat dem Parlament unterdessen den Vorabentwurf für das Wahlgesetz zur Kenntnis gebracht. Der Vorschlag ist nach wie vor, zwei große Bezirke einzurichten – der Kritik des Staatsrats zum Trotz. Nun liegt der Ball bei den Abgeordneten. Da überrumpeln die Sozialisten und ihr Wortführer Joseph Thorn die anderen Parlamentarier. Noch kurz zuvor, auf einem Parteitag im Herbst 1918, hatte die Sozialistische Partei die „Einführung der Verhältniswahl in radikalster Form, mit einem einzigen Wahlkreis“ als Ziel ausgegeben6. Am 27. März 1919 stellt sie dagegen ohne Vorwarnung den Antrag, die Vierteilung des Wahlgebiets in Süden, Zentrum, Norden und Osten nicht nur einzuführen, sondern sogar in Artikel 52 der Verfassung festzuschreiben7. Eine 180-Grad-Wende! Man verweist süffisant darauf, dass der Staatsrat, wenn auch aus anderen Gründen, ja ebenfalls vier Bezirke vorgeschlagen habe. Spätestens hier hätten bei den Sozialisten eigentlich die Alarmglocken läuten müssen: Mit dem reaktionären Staatsrat war man sich ansonsten kaum jemals einig.
Was hat sie geritten? Die Antwort hat mit parteipolitischen Kalkülen und mit der ausländischen Bevölkerung zu tun. Die Verteilung der Abgeordnetenmandate auf die Kantone bemaß sich seit 1841 nach der Einwohnerzahl, unabhängig von der Nationalität. Bekanntlich ist das im Kern bis heute so. Damals wie heute führt das dazu, dass in den Ballungsräumen, in denen besonders viele ausländische Arbeitnehmer leben, auch besonders viele Mandate vergeben werden. In einem Einheitsbezirk oder im Falle einer Zusammenlegung von Esch/Alzette mit mehreren ländlichen Gemeinden würden diese Surplus-Mandate zwar rechnerisch erhalten bleiben. Aber darüber, an welche Partei sie gehen, hätten nicht mehr nur die Wähler der sozialistischen Hochburg Esch/Alzette zu entscheiden, sondern eben alle Wähler. In den Worten von Joseph Thorn anlässlich der Parlamentsdebatte vom 27. März 1919: „Le canton d’Esch a au moins quatre députés qui représentent non pas des Luxembourgeois, mais (…) les 20 000 étrangers qui vivent dans le canton d’Esch (…). Or, avec vos grandes circonscriptions électorales, ces 20 000 personnes (…) seraient réparties à travers tout le pays, ce sont les cantons agricoles (…) qui profiteraient de ces quatre députés“8.
Sitze, die in den Augen der Sozialisten quasi von Amts wegen den Arbeitern im Minett zustehen, würden mit der Ausdehnung der Wahlkreise gleichsam aufs rückständige Land entführt. Dort, so die Befürchtung, würden sie die Rechtspartei stärken: „Nous n’entendons pas qu’on accole les cantons agricoles au canton d’Esch (…) et que vous renforciez dans cette enceinte, au détriment de la population industrielle, l’influence de la population agricole“9. Kurz: Die vier Wahlbezirke sollen Esch vor den Konservativen schützen. Und das Ganze soll Verfassungsrang bekommen, damit später nichts mehr daran zu rütteln ist. Zu lebendig ist die Erinnerung an die Jahrhundertwende, als tatsächlich versucht worden war, den Kanton Esch aufzuspalten.
Die zuständige Parlamentskommission verwirft den Vorschlag zunächst und will an maximal zwei Wahlkreisen festhalten. Denn, in den Worten des Berichterstatters von der Rechtspartei: „Pour la représentation proportionnelle il faut avoir des circonscriptions aussi grandes que possibles“10. In einem Wahlbezirk mit nur acht Abgeordneten wäre die Zahl der Stimmen, die für ein Mandat erforderlich sind, viel zu groß, um eine gerechte Abbildung zu gewährleisten. Doch die Sozialisten bleiben hart. Sie drohen damit, die Reform des Wahlsystems ganz zu kippen, wenn die gewünschte Wahlkreiseinteilung nicht zustande kommt: „Nous ne voulons pas la représentation proportionnelle à n’importe quel prix et (…) si le prix que nous devons payer, est trop cher, (…) eh bien nous voterons contre“11. Die Sozialisten gehen aufs Ganze, ohne für eine Sekunde zu bemerken, dass sie sich gerade selbst eine Grube graben.
Letzter Akt: Die Rechtspartei gibt nach und stimmt ausgerechnet am 1. April dem sozialistischen Vorschlag zu, um das Prinzip der Verhältniswahl zu retten. Das Luxemburger Wort rühmt tags darauf die verantwortungsvolle Haltung der Rechtspartei, die im Interesse des Landes Kompromissbereitschaft zeige, während die Konkurrenz parteipolitische Machtkalküle betreibe. Allzu schwer fällt dieses Zugeständnis aber nicht. Denn die Sozialisten haben nicht alle Konsequenzen durchdacht. Zwar stellt ihre Wahlkreiseinteilung sicher, dass der Süden weiterhin viele Abgeordnete in die Kammer entsendet. In der Summe aber begünstigt das System trotzdem die Rechtspartei. Im Süden erhalten die Konservativen nämlich mindestens einen fairen Anteil. In den konservativen Hochburgen im ländlichen Raum hingegen verzerrt die geringe Zahl zu vergebender Sitze den Proporz zu ihren Gunsten, und das gleich mehrfach. Dasselbe Phänomen findet sich auch in anderen Ländern. In Spanien ist es stark ausgeprägt12. Einzigartig dürfte aber sein, dass man in Luxemburg dem politischen Gegner diesen Vorteil regelrecht aufdrängt.
Da kann Alex Bodry heute noch so sehr auf die CSV schimpfen, die sich angeblich jeder Reform des Wahlsystems verweigere. Soweit es die Bezirke betrifft, sind es seine eigenen Genossen, die historisch den Karren in den Dreck gefahren haben. Hätten sie sich damals wenigstens damit begnügt, die Sache ins Wahlgesetz zu schreiben. Dann hätte man das Missverständnis später korrigieren können. Aber es musste ja unbedingt in die Verfassung, um spätere Änderungen auszuschließen. Sogar der Staatsrat, dem die Stabilität sonst das höchste Gut ist, fand das dann doch übertrieben und warnte im April 1919: „L’on comprend que la Chambre tienne à inscrire la disposition dans la constitution, il se peut cependant que nous ayons sujet de le regretter plus tard“13. Wie wahr! Und so darf man sicher sein, dass die Tragödie weitergeht und die Diskussion bei den nächsten Wahlen aufs Neue beginnt.