Als das Statec eine Woche nach den Wahlen die Wachstumszahlen für 2017 drastisch nach unten korrigierte, rochen manche ein politisches Manöver. Nur 1,5 Prozent Wachstum vergangenes Jahr statt einer Ausweitung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,3 Prozent, von der das Statec bis dahin ausgegangen war – waren diese Zahlen etwa bewusst zurückgehalten worden, um den Wählern vorzumachen, es ginge dem Land besser als in Wirklichkeit der Fall ist? Wieso, wenn im Wahlkampf so viel darüber diskutiert wurde, dass die Wirtschaft zu schnell wachse?
Die neuen Zahlen interpretierte Finanzminister Pierre Gramegna (DP) am Rande der Koalitionsverhandlungen vergangene Woche aus diesem Blickwinkel: „Das BIP ist nicht so spektakulär gut, wie die Leute immer gesagt haben. Wir haben also kein so riesiges Problem zu schnellen Wachstums. Wir hatten im Schnitt eine Wachstumsrate von 3,5 Prozent seit 2014. Das sind vernünftige Wachstumsraten.“
Das stimmt, wenn man den Erklärungen glaubt, die Statec-Direktor Serge Allegrezza hier und da machte, so nicht wirklich. Denn er gab mehr oder weniger deutlich zu verstehen, dass die neuen Zahlen die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr widerspiegeln, das BIP als Indikator beschädigt ist. In der Sendung Kloertext bei RTL Télé führte er das unglückliche Timing darauf zurück, dass man kurz vor dem Veröffentlichungstermin derart große Diskrepanzen feststellte, dass man bis auf die Mikrodaten einzelner Unternehmen zurückging, um zu prüfen, warum die neuen Berechnungen und die alten Vorhersagen so weit auseinanderlagen. Denn Ende 2017 beispielsweise, als die Regierung ihren vorläufigen Haushaltsplan in Brüssel einreichte, ging man darin noch von einem BIP-Wachstumsrate von zwischen zwei und 3,4 Prozent aus.
Dass die Wachstumsprognosen in Luxemburg oft und viel korrigiert werden, ist nicht neu und liegt an der offenen, auf den Export von Finanzdienstleistungen spezialisierten Wirtschaft. Aufgrund der hoch entwickelten Bankenbranche und der überdimensionierten Investmentfondsindustrie folgte die Wachstumskurve der Luxemburger Wirtschaft grosso modo der Kurve des Börsenindikators Eurostoxx50. Stiegen die Börsenkurse, stieg auch das Luxemburger BIP und mit ihm die Beschäftigungsrate und die Staatseinnahmen. Fielen sie, verlangsamten sich Wachstums- und Beschäftigungsrate, die Einnahmen aus der Abonnementstaxe fielen. Als weitere Faustregel konnte man sich bisher meistens darauf verlassen, dass der Luxemburger Wirtschaftsmotor, durch die Finanzbranche getunt, meistens schneller drehte als der der Eurozone und ein paar Prozentpunkte Wachstum mehr aufzuweisen hatte.
Diese Zusammenhänge, egal in welche Richtung es ging, scheinen sich nun aufzulösen. Das BIP der Eurozone stieg 2017 um 2,3 Prozent an, also schneller als die 1,5 Prozent in Luxemburg. Dennoch wurden weiter neue Mitarbeiter rekrutiert, denn die Beschäftigungsrate stieg in der gleichen Zeit mehr als doppelt so schnell an, um 3,2 Prozent. Und die Steuereinnahmen fielen trotz Steuererleichterungen und Mehrwertsteuerausfällen beim elektronischen Handel insgesamt um 5,3 Prozent höher aus. Die Unternehmen zahlten zehn Prozent mehr Steuervorschüsse. Dass die Einnahmen ganz deutlich anstiegen, lag also nicht nur daran, dass die Steuerverwaltung Rückstände aus den Vorjahren eintrieb, sondern auch an einem steigenden Steueraufkommen insgesamt. So wies das Statec in seinem Conjoncture Flash 10/2018 vergangene Woche auf „une certaine déconnexion du PIB voire de la valeur ajoutée des fondamentaux conjoncturels“ hin, und erklärte, diese Entkopplung sei auf die Operationen von ein paar multinationalen Unternehmen zurückzuführen. „Ces phénomènes, bien qu’isolés, ont donc un impact technique – mais significatif – et biaisent son interprétabilité en tant qu’indicateur synthétique de l’activité économique du pays.“ Rechnete man diese Operationen der Multis, die ihre Strategie im Laufe des vergangenen Jahres angepasst haben, heraus, erklärte Serge Allegrezza auch im 100,7-Interview, lägen die Wachstumszahlen für die restliche Ökonomie näher an dem, was man eigentlich erwartet hatte.
Besagte Operationen entsprachen laut Conjoncture Flash 2,5 Prozent des BIP von 2017, das den neuesten Berechnungen zufolge 55,301 Milliarden Euro entsprach, also 1,382 Milliarden Euro. Um welche Unternehmen es sich dabei handelte, wollte der Statec-Direktor im Radiointerview nicht sagen, er riskiere eine Haftstrafe, wenn er das Statistikgeheimnis breche.
Doch ein Blick in die Firmenbilanzen der Luxemburger Niederlassungen der Multis steht jedem offen und darin lässt sich nachvollziehen, wie manche von ihnen, statt ihre Gewinne nach Luxemburg zu verschieben, sie 2017 offenbar anderswo verteilt haben. Amazon, der Online-Händler, der noch 2016 Gewinne von 219 Millionen Euro in Luxemburg meldete, fuhr 2017 einen Verlust von 633 Millionen Euro ein. Coca-Cola European Partners, die 2016 noch 461 Millionen Euro Gewinn in Luxemburg verbuchten, meldeten 2017 einen Gewinn von „nur“ noch 143 Millionen Euro, weil die Filialen statt wie im Vorjahr 467 nur noch 145 Millionen Euro Dividenden überwiesen. Der Ketchup-Fabrikant Heinz, der 2016 noch 6,6 Milliarden kanadische Dollar nach Luxemburg geleitet hatte, rund 4,4 Milliarden Euro, und einen Gewinn von rund 2,3 Milliarden Euro registrierte, entschied 2017, gar keine Dividenden nach Luxemburg zu überweisen, und der Gewinn fiel auf 51 Millionen Euro. Skype Global, die in den Vorjahren rund 1,2 Milliarden Euro Vorjahresgewinne in Luxemburg angesammelt hatte, machte 2017 einen Verlust von etwa 192 Millionen Euro.
Bereits im Jahr davor, als die heimische Wirtschaft mit 2,4 Prozent BIP-Wachstum auch nicht ganz so schnell wuchs wie erwartet, hatte McDo Franchising Europe die Türen in Luxemburg geschlossen. Im letzten Geschäftsjahr, für das ein Geschäftsbericht vorliegt, vermeldete die Firma, die die Franchising-Rechte für die McDonalds-Schnellrestaurants in Europa verwaltete, immerhin 475 Millionen Euro Gewinn. Itunes wanderte 2016 nach Irland ab, hatte in jenem Jahr aber noch 172 Millionen Euro Gewinn gemacht.
Zwar geht das Statec in seinem Conjoncture Flash davon aus, dass das „technische“ Problem dieses Jahr gelöst ist und die Wachstumsraten wieder den Erwartungen entsprechen, also knapp unter vier Prozent liegen werden. Dass die Luxleaks Affäre aber auch in Zukunft noch Folgen auf das BIP haben wird, ist nicht auszuschließen, da die großen Anpassungen des Steuerrahmens erst zum kommenden Jahreswechsel mit der Atad-Richtlinie in Kraft treten, worauf es möglicherweise wieder unvorhersehbare Reaktionen geben könnte. Beziehungsweise solche Reaktionen, die sich nach den EU-Vorgaben zur Berechnung des BIP, denen das Statec folgen muss, nicht so neutralisieren lassen, dass das BIP noch die wirtschaftlichen Realitäten im Land widerspiegelt.
Das hat auch Folgen an anderer Stelle. Als der nationale Rat für die öffentlichen Finanzen CNFP kürzlich der Regierung bescheinigte, vergangenes Jahr die europäischen Haushaltsregeln eingehalten zu haben, stützte er sich dabei auf die noch nicht korrigierten Daten von Juni, als man von einem BIP-Zuwachs von 2,3 Prozent ausging, also weitaus mehr als sich in der Zwischenzeit bestätigt hat. Durch die Korrekturen verändert sich natürlich auch das theoretische Wirtschaftspotenzial und in der Folge die Produktionslücke aufgrund derer schließlich das strukturelle Saldo berechnet wird, anhand dessen Brüssel misst, ob ein Euroland die Stabilitätskriterien einhält oder nicht.
Allerdings ging der CNFP bei seiner letzten Berechnung von einem BIP von 48,8 Milliarden Euro aus, während es laut Conjoncture Flash vom Oktober bereits sechseinhalb Milliarden mehr, nämlich 55,301 Milliarden betrug. Was das nun über den Zustand der Staatsfinanzen aussagt? Derzeit ist der Überschuss nominal und strukturell so hoch, und das mittelfristige Haushaltsziel mit einem strukturellen Saldo von -0,5 Prozent so niedrig, dass Luxemburg kaum Probleme hätte, es einzuhalten. Und im Prinzip steigt der strukturelle Saldo wenn der konjunkturelle Anteil am Saldo sinkt. Deshalb hatte man im Juni vergangenen Jahres, als man noch davon ausging, die Wirtschaft würde 2017 und 2018 um 4,8 Prozent zulegen, befürchtet, der strukturelle Anteil würde so weit sinken, dass Luxemburg riskiere, die Haushaltsregel nicht mehr einzuhalten, weil der konjunkturelle Anteil am Saldo zu hoch ausfalle (d’Land, 02.06.2017). So dass mittlerweile nur noch sicher ist, dass das BIP immer weniger aussagekräftig wird, obwohl an ihm nicht nur das Defizit, sondern auch die Staatsverschuldung gemessen werden. Zwar sagte ein Sprecher des Finanzministeriums dem Land, bei der Haushaltsplanung brauche man das BIP konkret nur, um die Verteidigungsausgaben zu planen, bei denen es im Rahmen der Nato Auflagen gibt, mindestens zwei BIP-Prozent auszugeben. Alles andere werde im Nachhinein berechnet. Dennoch wird es spannend sein zu sehen, was das Nationale Wirtschafts- und Finanzkomitee den Koalitionspartnern kommende Woche über die Wirtschaftsentwicklung erzählen wird und über den finanziellen Handlungsspielraum, der sich daraus für die gerade begonnene Legislaturperiode ergibt. Am kommenden Donnerstag wird übrigens auch die EU-Kommission ihre neuen Prognosen über die Wirtschaftsentwicklung in den Mitgliedstaaten vorlegen, so dass man ebenfalls gespannt sein kann, zu welchen Ergebnissen sie kommt.