Haushaltspolitik der neuen Generation: Sozialversicherte und Staat sollen Pflegebetrieben die Auswirkungen des Zukunftspak ausgleichen, der die Staatskasse eigentlich entlasten soll

Pflegefall Kopernikus

d'Lëtzebuerger Land vom 18.12.2015

Das Jahresbudget für die Pflegeversicherung zu verabschieden, geht normalerweise ziemlich schnell: Am Mittwoch der zweiten Dezemberwoche stimmt darüber der Vorstand der Gesundheitskasse CNS ab, die neben der Kranken- auch die Pflegeversicherung verwaltet. Anschließend geht der Entwurf zur Bestätigung an den Sozialminister, der in der Regel nichts an ihm auszusetzen hat.

Diesmal fiel das nicht so leicht. Als der CNS-Vorstand am Mittwoch vergangener Woche abstimmen sollte, waren die drei Delegierten der Freiberufler auf einer Veranstaltung der Luxemburger Présidence in Brüssel und ihre Ersatzleute krank oder anderweitig verhindert. Weil damit das Quorum nicht erreicht war, konnte das Votum erst am Mittwoch dieser Woche über die Bühne gehen.

Den Sozialminister stellt das Pflegekassenbudget 2016 ebenfalls vor eine besondere Herausforderung. Dieses Budget ist spannender als alle der vorangegangenen Jahre. Vor allem steht darin, dass Überbrückungskredite (crédits-tampons) von insgesamt 35,2 Millionen Euro für Pflegebetriebe zur Verfügung stehen sollen, die wegen der „verschiedenen Sparmaßnahmen“ aus dem Zukunftspak der Regierung „in Bedrängnis geraten“ sind. 22,3 Millionen Euro soll es nächstes Jahr, 12,9 Millionen rückwirkend für dieses Jahr geben.

35,2 Millionen sind nicht nur kein Pappenstiel. Da zwei Fünftel aller Pflegeausgaben generell aus der Staatskasse finanziert werden, kommen zwei Fünftel von 35,2 Millionen Euro, gleich 14,08 Millionen Euro, jenen 15,6 Millionen verdächtig nahe, die die Regierung im Pflegebereich über den Zukunftspak dieses und nächstes Jahr eigentlich einsparen will. Zumindest Zukunftspak-Maßnahme Nummer 256 führt, wie die Dinge liegen, nicht zu einer „kopernikanischen Wende“ in der Haushaltspolitik, sondern macht Kopernikus zum Pflegefall. Weil Minister Romain Schneider (LSAP) den CNS-Vorschlag zu den Überbrückungskrediten zwar noch nicht endgültig bestätigt, aber schon akzeptiert hat, hat er indirekt eingestanden, wie schlecht platziert die Sparaktion in der Langzeitpflege war.

Dabei kann die Regierung von Glück sagen, dass in der Pflegekasse so viel Geld klingelt, dass 12,9 Millionen Euro für dieses und 22,3 Millionen für nächstes Jahr einfach so lockergemacht werden können. Der größte Teil der crédits-tampons muss notgedrungen aus den Beiträgen der Sozialversicherten bezahlt werden. Als die DP-LSAP-Grünen-Koalition antrat, hieß es noch, 2015 werde für die Pflegekasse das letzte normale Jahr sein. Anschließend werde sie „strukturell defizitär“, also ihre Reserven aufzehren und wenig später pleite sein, falls keine „Reform“ Ausgaben spart, für neue Einnahmen sorgt oder beides tut.

Zwei Jahre später geht es der Pflegekasse prächtig. Statt ihre Reserven aufzubrauchen, soll sie nächstes Jahr einen Überschuss von 8,3 Millionen Euro einfahren, hielt der CNS-Vorstand im Budget 2016 fest. Dieses Jahr dürfte der Überschuss bei 12,6 Millionen liegen. Das kumulierte Resultat der Pflegekasse soll von 81,3 Millionen Euro dieses Jahr bis auf knapp 90 Millionen im kommenden Jahr wachsen. Und darin sind die crédits-tampons bereits enthalten.

Eine Pflegekasse, der es finanziell besser geht als man dachte. Eine Regierung, die Pflegeausgaben sparen lassen wollte, nun aber draufzahlen lassen muss. Pflegedienstleister, die durch den Zukunftspak in Bedrängnis geraten sind: Passt all das zusammen?

Das tut es, weil ein politisches Problem besteht. Die Sparkoalition aus DP, LSAP und Grünen hatte von ihrer CSV-LSAP-Vorgängerin das Vermächtnis übernommen, die Finanzierung der Pflegeversicherung „längerfristig abzusichern“. Weil die modernisierungswillige blau-rot-grüne Regierung alles besser machen wollte als jede von der CSV dominierte vor ihr, wurde die „längerfristige Absicherung“ durch eine Reform, für die bis heute kein Gesetzentwurf vorliegt, noch um zusätzlichen kurzfristigen Druck durch die „Haushaltspolitik der neuen Generation“ ergänzt, in der jedes Ressort einen Sparbeitrag leisten soll.

Im Pflegebereich ließ dieser Beitrag sich sogar ziemlich genau beziffern. Denn schon die CSV-LSAP-Regierung hatte ab 2012 jenen landesweit geltenden mittleren Geldwert (valeur monétaire), aus dem die Preise für jeden Pflegeakt gebildet werden, eingefroren. Das sollte die Pflegeausgaben begrenzen und damit den Zwei-Fünftel-Staatsbeitrag zu diesen. Die DP-LSAP-Grünen-Regierung ließ die Eiszeit weiterbestehen und lässt sie auch nächstes Jahr andauern. Lediglich 2,2 Prozent mehr gibt es, damit die Pflegebetriebe für ihr Personal mit assimiliertem öffentlichen Statut die Punktwerterhöhung aus dem letzten Gehälterabkommen für den öffentlichen Dienst übernehmen können, ohne noch stärker „in Bedrängnis“ zu geraten.

Zum fortgesetzt eingefrorenen Pflegeakt-Durchschnittsgeldwert kam im Zukunftspak die Ankündigung, Pflegeleistungen würden nun anders zuerkannt. Mal hieß das im Zukunftspak „effizienter“, mal „restriktiver“. Beide Sparmaßnahmen zusammengenommen hatten sehr wohl ihre Wirkung. Als der Branchenverband der Pflegebetriebe (Copas) Mitte Juli Sozialminister Schneider traf, räumte der ein, nach sechs Monaten Zukunftspak sehe es so aus, als würden die Betriebe auf jeden Pflegeplan eines in einem Heim betreuten Pflegebedürftigen 19 Prozent weniger einnehmen als vorher und auf jeden Pflegeplan eines zuhaus Betreuten 17 Prozent weniger. Die Copas-Vertreter waren entsetzt: Diese Einbuße lag noch höher, als sie verbandsintern geschätzt hatten.

Der Minister beruhigte sie aber. Einerseits blieben Pflegebedürftige nicht nur ein Jahr in Pflege, sondern im Schnitt 18 Monate; dadurch reduziere die Einbuße sich. Und außerdem werde die Kundenzahl weiter wachsen: die für Pflege in Heimen um jährlich 2,1 Prozent und die für Zuhaus-Betreuung sogar um 4,1 Prozent. Am Ende werde daraus ein „Nullsummenspiel“ für die Dienstleister, und so sei das im Zukunftspak auch gedacht gewesen (d’Land, 24.07.2015).

Doch was sich damals wie ein raffiniertes Kalkül anhörte, ist es heute nicht mehr. Der OGBL hatte schon vergangenen Monat erklärt, die Pflegeausgaben seien erstaunlich wenig gestiegen, aber nicht wegen des Zukunftspak, sondern weil die Zahl der Pflegebedürftigen sinke. Im Budget 2016 der Pflegekasse ist das nun nachzulesen: 2015 schrumpfte der Kreis der Leistungsempfänger um 0,5 Prozent. Für nächstes Jahr wird ein Wachstum um lediglich 0,7 Prozent erwartet. Rückläufig bis stagnierend ist vor allem die Zahl der zuhause Betreuten, die rund zwei Drittel der Pflegeleistungsempfänger stellen und die Romain Schneider im Juli noch besonders im Zuwachs begriffen sah.

Mittlerweile aber haben auch Schneiders Mathematiker von der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) sich über das Problem gebeugt. Ihre ersten Erkenntnisse schließen nicht aus, dass eine „demografische Tendenz“ bestehen könnte. In der Altersgruppe der über 80-Jährigen, die das Gros der Pflegebedürftigen stellen, wirkt sich eventuell der Geburtenrückgang nach der Weltwirtschaftskrise ab Ende der 1920-er Jahre aus, der sich während der Nazi-Okkupation noch verstärkte und bis in die Nachkriegsjahre anhielt.

Ob das tatsächlich so ist, ist noch nicht klar. Eine andere Erklärung könnte sein, dass in Luxemburg die „Lebenserwartung bei guter Gesundheit“ zunimmt und zusätzliche Lebensjahre nicht oder nur zum Teil in Pflege verbracht werden. Theoretisch denkbar ist auch, dass nicht nur Leistungen der Pflegekasse neuerdings wesentlich restriktiver zuerkannt werden, sondern die Pflegebedürftigkeit überhaupt und viele Personen einfach durchs Raster fallen. Wahrscheinlich ist das aber nicht: Pflegebedürftigkeit wird auf eine medizinische Diagnose hin festgestellt. Hätten die Zukunftspak-Maßnahmen daran drehen lassen, wäre das schon aufgefallen.

Eines scheint aber zuzutreffen: Auf den Zukunftspak hin wurden nicht nur neue Anträge auf Pflegebedürftigkeit „restriktiver“ bewertet – womit vor allem die Zuerkennung von „Unterstützungsleistungen“ gemeint ist, die die Lebensqualität der Betreffenden steigern. Sondern es wurden, anders als Minister Schneider im Juli erklärt hat, auch bestehende Pflegepläne neu evualiert und angepasst. Beim OGBL zum Beispiel weiß man von einer Person, die wegen ihrer Erkrankung Anspruch auf täglich acht betreute Toilettengänge hatte. Nach der Reevaluation ihres Pflegeplans wurden daraus vier.

Solche Kürzungen, verbunden mit dem weiterhin eingefrorenen Pflegeakt-Durchschnittspreis und bei der nun auch amtlich anerkannten stagnierenden bis rückläufigen Kundenzahl machen der Pflegebranche verständlicherweise zu schaffen: Vermutlich beschäftigt so mancher Betrieb zu viel Personal.

Das ist der Hauptgrund für die nun im Pflegekassenbudget vorgesehenen Überbrückungskredite, aber auch für die Demografie-Analyse durch die IGSS. Weil im Pflegesektor Marktfreiheit herrscht, sollen die crédits-tampons es den Betrieben erlauben, sich umzustellen, ohne dass sich wiederholt, was Hëllef doheem, der größte Anbieter mobiler Pflege, Anfang Juni androhte: Personalabbau über einen Sozialplan.

Das ist durchaus knifflig. Denn die Überbrückungskredite sollen keine Geschenke sein, sondern nur dem gewährt werden, der tatsächlich durch den Zukunftspak in Bedrängnis geriet. Um das zu ermitteln, werden CNS und Sozialministerium sich mit der Copas noch auf eine Methode einigen müssen, die anschließend in der Konvention zwischen Pflegedienstleisterverband und CNS verankert wird. „Managementfehler“ sollen die crédit-tampons auf jeden Fall nicht kompensieren helfen.

Mehr oder weniger offen werfen Minister und CNS Hëllef doheem vor, Managementfehler begangen und den Verlust von 3,2 Millionen Euro, den die konfessionelle Stiftung in ihrem Jahresabschluss 2014 ausweisen musste, selber verursacht zu haben. Die Personalkosten von Hëllef doheem waren 2014 um 11,35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, vor allem weil zusätzliches Personal eingestellt worden war. Dabei sank bei dem Pflegebetrieb, der mit rund 2 000 Mitarbeitern zu den größten Arbeitgebern im Lande zählt, die Pflege-Aktivität 2014 um 0,75 Prozent. Das hätte das Management erkennen müssen, so der Vorwurf, den nur die Gewerkschaften ganz öffentlich und laut erheben.

So plausibel wie diese Argumentation klingt: Sie ist auch eine politische. Denn sie bildet so etwas wie eine Gegenrede zu allem, was bisher offiziell über die Zukunft der Pflegebranche verlautbart wurde.

Sinkende Pflegeaktivität und stagnierende Kundenzahl? Nicht erst Romain Schneider erzählte von jährlichen Zuwächsen auf lange Sicht, und sogar von 4,1 Prozent im wichtigsten Bereich der Langzeitpflege, der Zuhaus-Betreuung, zu einem Moment, da dort die Kundenzahl besonders eingebrochen war.

Als unter der vorigen Regierung die IGSS im Mai 2013 eine 400 Seiten lange Bilanz über 14 Jahre Pflegeversicherung vorlegte und darin auch einen Ausblick in die Zukunft wagte, schrieb sie kühn, die Zahl der Pflegebedürftigen werde bis 2030 um durchschnittlich 2,2 Prozent pro Jahr wachsen. Denn es sei davon auszugehen, dass bis dahin die Lebenserwartung um zwei Jahre steige, die beiden zusätzlichen Jahre jedoch in Pflege verbracht würden.

Die IGSS räumte ein, dieses Szenario sei das „pessimistischste“ unter mehreren. Denkbar sei auch der gegenteilige Fall, dass die Gesundheit im hohen Alter sich deutlich verbessere und nicht nur die zwei zusätzlich gewonnenen Lebensjahre ohne Pflegebedürftigkeit verbracht würden, sondern der Pflegeaufwand noch weiter sinken könnte. Dennoch blieb die Behörde bei ihrer düsteren Einschätzung. Am Ende ergab sich daraus eine bis 2030 um vermutlich 13 Prozent höhere Pflegebedürftigtenzahl als in einem dritten Szenario, das die IGSS eigentlich ebenfalls für möglich hielt, aber dennoch ausschloss: dass bei steigender Lebenserwartung die „Altersmorbidität“ konstant bleiben könnte und wenigstens ein Teil der zusätzlichen Lebenszeit noch bei guter Gesundheit verbracht würde.

Weshalb die Generalinspektion der Sozialversicherung vor zweieinhalb Jahren die Zukunft so schwarz malte, während sie heute nach den Gründen für die stagnierende Pflegebedürftigkeit fahndet, ist nicht ganz einfach festzustellen, könnte aber politische Gründe haben. Nur aus dem pessimistischten Szenario heraus konnte die vorige Regierung erklären, nach der gesetzlichen Unfall-, der Kranken- und der Rentenversicherung gehöre nun auch die Pflegeversicherung „wetterfest gemacht“ und wolle man nicht einfach den Beitragssatz von zurzeit 1,4 Prozent auf mindestens 1,7 Prozent der steuerpflichtigen Bruttoeinkünfte anheben, müsse man schon eine ausgeklügelte Lösung finden. Ihre Nachfolgerin übernahm die Geschichte vom Handlungsdruck, verhalf der Pflegebranche aber erst durch den Zukunftspak zu einem echten Problem.

Da nun die Pflegekasse kurioserweise wieder Überschüsse ausweist, stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. In erster Linie hat die bessere Finanzlage weniger mit Einsparungen zu tun als mit der Konjunktur. Die mittlere Einkommensmasse, auf die die Beiträge erhoben werden, wuchs 2015 um 3,5 Prozent und soll 2016 um 2,9 Prozent zunehmen. Und auch Langfrist-Szenarien gehen davon aus, dass in Luxemburg die Beschäftigung weiter wachsen wird, was neue Beitragszahler bedeutet: Die Ageing Working Group, eine Arbeitsgruppe bei der EU-Kommission, hatte 2012 noch geschrieben, um 2020 werde der Beschäftigungszuwachs hierzulande vermutlich nur bei 0,7 Prozent liegen und 2030 bei 0,2 Prozent. In ihrem jüngsten Bericht vom Frühjahr dieses Jahres dagegen hält die Ageing Working Group in Luxemburg 2,7 Prozent Zuwachsrate für 2020 für denkbar und 1,7 Prozent um das Jahr 2030.

Fast könnte man meinen, das Beste, was zu tun bliebe, wäre, den Zukunftspak für den Pflegebereich außer Kraft zu setzen und alle Reformideen gleich mit ad acta zu legen. Die Regierung ist dieser Ansicht offenbar nicht: Im Staatshaushaltsgesetz 2016 steht im selben Wortlaut wie in dem für 2015, die Bilanz der Generalinspektion der Sozialvertsicherung habe 2013 ergeben, dass die Finanzierung der Pflegeversicherung überdacht werden müsse.

Doch gerade weil der Pflegebedarf sinkt oder stagniert, ist ein „Überdenken“ des jüngsten Zweigs der Sozialversicherung tatsächlich nötig. Denn es waren die so stark wachsenden Kundenzahlen, die die Pflegebranche zum Boomen brachten. Und weil im Pflegebereich Marktfreiheit herrscht, reizte dieser Boom zu immer neuen Betriebsgründungen und immer neuen Leistungsangeboten an, mit denen vor allem die großen Anbieter im mobilen Bereich um noch den letzten Gebrechlichen oder Demenzkranken konkurrieren und ihn möglichst lange an sich zu binden versuchen. Um dieses Wachstum nicht zu behindern, gestatteten Politik, Verwaltungen und CNS jahrelang, dass immer mehr Geld in die Branche floss und vor allem auch die Heime ab 2007 Geld für Pflegeleistungen erhalten konnten, die eigentlich – und sinnvollerweise – ausschließlich für die Zuhaus-Pflege gedacht waren.

Man muss es sagen: Gänzlich unsinnig sind die „restriktiven Maßnahmen“ nicht, die der Zukunftspak für den Pflegebereich vorsieht. Sie sollen die Branche unter Anpassungsdruck setzen, ehe die Pflegeversicherungsreform im Detail klärt, was sich ändern soll. Was der Regierung nun auf die Füße gefallen ist, ist der Umstand, dass sie offenbar selber nicht den nötigen Überblick über die Entwicklung des Pflegesektors behalten hat und mit den Zukunftspak-Maßnahmen die Betriebe vor vollendete Tatsachen stellte. Eine Konsolidierung aber und eine Ausrichtung der öffentlich Pflegeleistungen auf das, was wirklich sinnvoll ist, tut weiterhin not. Und dass es der Pflegekasse nun wieder prächtig geht, verhindert hoffentlich, dass es zu sinnlosen Einschnitten ins Angebot kommt.

Peter Feist
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