Am heutigen Freitag präsentiert der Sozialminister wichtige Teile der Pflegeversicherungsreform. Nicht nur die Pflegebetriebe, auch die Gewerkschaften scheinen zu wollen, dass sich wenig ändert

Vorsicht, Explosionsgefahr

d'Lëtzebuerger Land vom 10.07.2015

Großen Bahnhof wird es heute auf dem Roost geben. Sozialminister Romain Schneider (LSAP) stellt Teile seiner Pflegeversicherungsreform vor, und eingeladen sind alle nur denkbaren Interessenvertreter, die etwas mit Langzeitpflege und politischen Diskussionen um sie zu tun haben könnten. Ein ähnlich großes Happening hatte zuletzt vor sieben Monaten stattgefunden.

Damals waren Schneiders Auskünfte über seine Reformpläne ziemlich allgemein gewesen. Vollständig enthüllen wird der Minister sie auch heute nicht – ganz einfach, weil er sie vollumfassend noch nicht hat. Stattdessen will er zwei Themen besonders intensiv diskutieren lassen: die „Unterstützung“ und die „informellen Pfleger“. Was zu beiden am Ende in einem Reformtext stehen könnte, sollen die Gesprächspartner vom Roost in den kommenden Monaten mitentscheiden können.

Das heutige Treffen soll aber auch Gelegenheit sein, sich auszusprechen. Denn hinter den Kulissen wird das Vorhaben „Pflegereform“ zunehmend politisiert. Ganz gleich, ob Hëllef doheem, das größte mobile Pflegenetz, seinen guten Ruf aufs Spiel setzt, ein ausgesprochener Pflegeprofi zu sein, und, wie im Juni geschehen, einen Sozialplan für 90 von 2 000 Mitarbeitern ankündigt, als könne der den Betrieb viel rentabler machen; ob der Pflegedienstleisterverband Copas, wie vergangene Woche auf einer Pressekonferenz, die Kostenlage seiner Mitglieder als „dramatisch“ beschreibt, oder ob der OGBL-Präsident, wie nach dem Nationalvorstandstreffen der Gewerkschaft am Dienstag, erklärt, „wir verschließen uns jeder Diskussion, die an der Pflegeversicherung sparen will“: Immer geht es darum, die Reformdiskussion zu beeinflussen, noch ehe sie richtig begonnen hat.

Die Aufregung ist einerseits deshalb so groß, weil die Regierung über den Zukunftspak bereits an der Pflege spart. Zwei Fünftel der Pflegeausgaben trägt laut Pflegegesetz die Staatskasse. 224 Millionen Euro waren das 2013. Dieses Jahr soll die Staatskasse um 17 Millionen Euro Pflegekassen-Zuschuss entlastet werden, danach Jahr für Jahr um immer mehr und 2018 um 39 Millionen. Im Prinzip auch ohne Reform und einfach dadurch, dass Pflegeleistungen restriktiver zuerkannt werden und die Durchschnittspreise für Pflegeakte, die valeurs monétaires, die der Branchenverband Copas mit der Gesundheitskasse CNS eigentlich alljährlich neu aushandelt, so eingefroren bleiben könnten, wie das schon vor drei Jahren die CSV-LSAP-Regierung entschieden hatte.

Andererseits aber könnte die Pflegereform eine auch strukturelle Reform werden. Ziemlich unschuldig steht im Koalitionsprogramm von DP, LSAP und Grünen der Satz: „Um die Entwicklung der Ausgaben und Leistungen im Griff zu behalten und das System abzusichern, ist es wichtig, die Pflegeversicherung wieder auf ihre Grundprinzipien zu zentrieren.“ Gemeint damit sind „Hilfen hoher Qualität bei den essenziellen Verrichtungen des Lebens“ sowie eine „Priorität für die Betreuung zuhause“. Allein in diesem Vorhaben liegt politischer Sprengstoff.

Eigentlich ist das erstaunlich. Denn „Priorität für die Zuhaus-Betreuung“ galt schon immer, seit am Neujahrstag 1999 das Pflegeversicherungsgesetz in Kraft trat. Ebenfalls schon immer zählt als „pflegebedürftig“ nur, wer mindestens während dreieinhalb Stunden pro Woche Hilfe bei drei „essenziellen Verrichtungen des Lebens“ benötigt: bei der Körperpflege, beim Essen sowie bei der Fortbewegung.

Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Wäre das der Fall, würde die Pflegekasse wohl ebenfalls eines Tages „strukturell defizitär“ und die Einnahmen würden nicht mehr reichen, um die Ausgaben zu decken und eine Mindestreserve zu speisen. Allein deshalb, weil die statistische Lebenserwartung zunimmt, die Lebenserwartung bei guter Gesundheit dagegen viel weniger, und damit das Gros der Pflegebedürftigen wächst: Personen über 80. In den fünf Jahren von 2006 bis 2010 wuchs die Zahl der Pflegebedürftigen von 9 857 auf 11 706. Die Ausgaben der Pflegekasse für Hilfen bei den essenziellen Verrichtungen des Lebens wuchsen im selben Zeitraum von 160 Millionen auf 215,5 Millionen Euro, also fast doppelt so schnell wie der auf Pflegeleistungen angewiesene Teil der Bevölkerung.

Warum, ist – noch – nicht genau nachzuvollziehen anhand öffentlich verfügbarer Informationen, wie jener über 400 Seiten langen Bilanz, die Ende 2012 die IGSS, die Generalinspektion der Sozialversicherung, nach 14 Jahren Pflegeversicherung vorgelegt hatte und die als Diskussionsbasis zur Vorbereitung der Reform dienen sollte. Sicher ist, dass das Pflegewesen so, wie es angelegt ist und geführt wird, immer teurer werden muss.

Denn ganz ähnlich wie im fast vollständig öffentlich finanzierten Spitalwesen leistet Luxemburg sich auch in der vollständig öffentlich finanzierten Pflege eine Konkurrenz unter den Anbietern. Mit dem Unterschied, dass die Krankenhauslandschaft immer überschaubarer wird und nur aus dem bestehen kann, was ein staatlicher Spidolsplang zulässt. Außerdem weist seit der Gesundheitsreform von 2010 der Regierungsrat den Spitälern alle zwei Jahre ein Globalbudget zu. Im Pflegewesen dagegen war ein freier Markt ausdrücklich gewollt, als die Pflegeversicherung aufgestellt wurde. Wer Minimalstandards einhält, über die das Familienministerium wacht, kann tätig werden in der Pflege.

Die Finanzierung der Pflege unterstützt das. Im Gegensatz zu dem, was man glauben könnte, kommt die Pflegekasse nicht nur für das auf, was Pflegebedürftigen in einem Plan de prise en charge durch eine Cellule d’évaluation et d’orientation beim Sozialministerium an Leistungen verschrieben wurde und was die Pflegedienstleister am Ende als geleistet bei der Kasse abrechnen. Die Preise pro Pflegeakt entstehen durch Multiplikation eines Tarif-Koeffizienten pro Akt mit jener valeur monétaire, die nun seit drei Jahren eingefroren ist. Sie ist ein Durchschnittspreis in Euro, der für vier Unter-Branchen des Pflegewesens, darunter die mobilen Netze und die Heime, separat ausgehandelt wird. Weil die Idee dahinter lautet, dass sich anpassen muss, wer mit den daraus entstehenden Pflegepreisen nicht auskommt, soll dieses Entgeltschema auch den Markt regulieren. In Wirklichkeit funktioniert das nicht so. Sagen Heime, sie wollen ausbauen und brauchen dafür mehr Personal, wird die valeur monétaire erhöht, damit das aufgeht. Weil im freien Pflegemarkt das Personal über ein parastaatliches Statut verfügt, wird so etwas entsprechend teuer.

Noch schneller als die Ausgaben für jene Leistungen, auf die die Regierung die Pflegeversicherung „rezentrieren“ möchte, nehmen die Ausgaben der Pflegekasse für ihren zweitwichtigsten Posten zu, die „Unterstützung“; einen jener beiden Themenbereiche, über die der Sozialminister auf dem Roost vertieft reden will. Der soutien, wie er im Verwaltungsjargon heißt, verteuerte sich zwischen 2006 und 2010 um 56 Prozent von 66 Millionen auf 103,5 Millionen Euro. Er ist seit den Gründerjahren eines der heißesten Themen der Pflegeversicherung. Glaubt man dem IGSS-Bericht von 2012, dann ist Luxemburg das einzige Land der Welt, in dem eine öffentliche Kasse Geld für soutien in der Langzeitpflege ausgibt. Der Aufwand dafür hat in den letzten Jahren weiter zugenommen und 2013 rund 146 Millionen Euro erreicht.

Die Pflegekasse auch für soutien bezahlen zu lassen, war stets ein besonderes Anliegen der Pflegedienstleister gewesen. Er soll präventiv sein, den Rückgang der Autonomie der betroffenen Person bremsen oder Autonomie zurückgewinnen helfen. Und so erhalten Pflegebedürftige beispielsweise Kinesitherapie, werden in Tagesstätten in Gruppen animiert, gehen Pflegehelfer mit Pflegeheimbewohnern spazieren oder begleiten sie bei Behördengängen. Dass das eine therapeutische Wirkung hat und tatsächlich der Prävention dient, wird im Sozialministe-rium und bei der CNS, die die Pflegekasse verwaltet, bezweifelt: Es gebe keinerlei wissenschaftlichen Beweis dafür. Auch der Pflegedienstleisterverband verfügt nicht über solche Evidenzen. Ziemlich klar ist, dass soutien ein Beitrag zur Lebensqualität ist. Laut Pflegegesetz aber ist er dafür nicht gedacht, sondern soll „Pflegezielen“ dienen. Was das ist, weiß niemand. Ganz klar aber ist, dass die Dienstleister damit rechnen, dass Geld für soutien fließt. Sonst müsste man Mitarbeiter entlassen – genauso wie im Fall, die valeur monétaire bliebe noch viel länger eingefroren. Das hatte Copas-Präsident Marc Fischbach gemeint, als er letzte Woche von der „dramatischen Kostenlage“ seiner Mitglieder sprach.

Entlassungen will natürlich niemand, wie die So-zialplan-Drohung von Hëllef doheem gezeigt hat, die aus der Tasche gezogen wurde, nachdem mit dem Sozialminister schon Gespräche über das Defizit beim größten Pflegenetz begonnen hatten. Entlassungen sähen nach Krise aus, untergrüben das Vertrauen der Leute in die Pflegeversicherung und brächten Ärger mit den Gewerkschaften ein. Vor allem jetzt, da OGBL und LCGB darauf drängen, dass ein neuer Kollektivvertrag für den parastaatlichen Pflegesektor nicht nur das jüngste Gehälterabkommen für den öffentlichen Dienst nachvollzieht, sondern auch die Reform des Beamtenstatuts, die zu Karrierenaufwertungen beim Pflegepersonal führen müsste. Dieses habe „ein Recht darauf; mehr als zwei Jahrzehnte haben wir dafür gekämpft“, betonte der OGBL-Präsident am Dienstag nach dem Nationalvorstand.

Da ist es kein Wunder, dass auch die Ausgaben der Pflegekasse für soutien sich nur zum Teil am Bedarf der Pflegebedürftigen ausrichten und zum anderen eine Branche stützen, die laut letzten Statistiken 8 478,5 Vollzeit-Einheiten an Personal zählt, das aber nur zu 70 Prozent mit Pflege zu tun hat. 60 Prozent des Personals sind in den 31 Alten- und den 20 Pflegeheimen tätig. Geld für soutien fließt in erster Linie in die Heime: 2013 waren es 85 Millio-nen Euro allein für „Gruppenarbeit“. Die kann in psychologischer Betreuung bestehen oder im Training der Feinmotorik. Aber auch in Ausgängen mit den Heimbewohnern oder in „Gruppen-Nachtwachen“. Natürlich muss ein Heim sowieso Nachtwachen organisieren, sonst verlöre es seine Betriebsgenehmigung. Nachtwachen als soutien aber hatte die Pflegekasse bis 2006 nur für Zuhaus-Betreute finanziert: Wird ein Pflegebedürftiger durch einen Familienangehörigen oder einen Freund versorgt – so genannte informelle Pfleger, über die Romain Schneider auf dem Roost ebenfalls reden will –, dann soll dem eine Ruhepause ermöglicht werden, indem an seiner Stelle ein Pflegedienst Nachtwachen übernimmt. Auf Druck der Heimbetreiber unter ihren Mitgliedern aber bestand die Copas darauf, dass für Heime dasselbe gelten müsse wie für mobile Pflegedienste. Als 2007 eine kleine Pflegeversicherungsreform in Kraft trat, schrieb sie jedem Typ Pflegebetrieb dasselbe Recht zu, soutien abzurechnen. Prompt stiegen in den Heimen die Kosten für „nicht-spezialisierte Gruppenarbeit“ – Gruppen-Nachtwachen und Gruppen-Ausgänge – von 1,8 Millionen Euro im Jahr 2007 auf 17 Millionen bis 2010.

Was man daran ändern könnte und was davon politisch durchsetzbar wäre, sind sehr komplizierte Fragen. Ihre Beantwortung wird dadurch erschwert, dass im Pflegewesen noch immer keine Normen existieren – obwohl es sie laut Gesetz längst geben müsste –, bisher niemand sagen kann, was „Qualität“ sein soll, und eine einheitliche Dokumentation, die dem System mitteilt, was es tut, erst vor der Einführung steht. Da wird jede Änderung an Finanzierungsmodi, an die sich alle gewöhnt haben, eine vor allem politische Übung.

Geschwächt, wie die Regierung seit dem Referendum vom 7. Juni ist, dürfte sie die bestehende Ordnung kaum wesentlich ändern wollen – gar nicht zu reden davon, ans parastaatliche Statut des Pflegepersonals zu rühren und die Branche auf jenes Low-cost-Niveau zu bringen, das während der Diskussionen vor Einführung der Pflegeversicherung in den Neunzigerjahren unter LSAP-Sozialministerin Mady Delvaux-Stehres lange angestrebt war, als auf dem freien Pflegemarkt sogar Anbieter von jenseits der Grenzen willkommen sein sollten.

Am Ende könnte es vor allem darum gehen, entweder eine kleine Beitragserhöhung vorzunehmen, für die Copas und OGBL schon Reklame machen, oder unter „Rezentrierung“ der Pflegeversicherung „auf ihre Basisprinzipien“ die Einführung von Eigenbeteiligungen zu verstehen. Etwa für Ausgänge von Pflegeheiminsassen mit Begleitung. Hinter den Kulissen der Politik wurden Eigenbeteiligungen schon erwogen. In einer Parlamentsdebatte vor einem Jahr lehnten nur LSAP und Grüne sie ab. Der Sozialminister sagte damals, „davon will ich nichts mehr hören“. Vor 14 Tagen antwortete auf eine parlamentarische Anfrage, sie seien „derzeit nicht vorgesehen“. Aber weil sie, in welcher Höhe auch immer, der Regierung und dem laut Tageblatt derzeit beliebtesten Nord-Poliker Romain Schneider übelgenommen werden dürften, steigt zu guter Letzt vielleicht der Beitragssatz. Es sei denn, Schneider hat ein paar ganz gewitzte Ideen in petto. Vielleicht schon heute auf dem Roost.

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Peter Feist
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