Es gibt Filme, denen man nicht nur viel Publikum wünscht, sondern auch Kinovorführungen mit Debatte danach. Orangerie ist so einer: Einen Dokumentarfilm aus dem Innenleben des CHNP, des Neuropsychiatrischen Krankenhauses in Ettelbrück, gab es bisher noch nicht. Im Fernsehen wurde die eine oder andere kurze Reportage gezeigt, seitdem vor sieben Jahren die Psychiatriereform nicht mehr nur auf dem Papier stand, sondern zu einem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Vorhaben wurde, dem nach und nach immer mehr konkrete Schritte folgten. Anne Schiltz’ und Benoît Majerus’ 55 Minuten langer Film ist aber weitaus mehr als nur ein ausführlicheres Stück Fernsehjournalismus. Orangerie steht in der Tradition des nordamerikanischen Direct Cinema: in der interessierten, aber distanzierten Beobachtung der Gegenwart. Mit den beiden Filmemachern zu diskutieren, wie ihnen sich die Gegenwart darstellte, die sie vorfanden, würde helfen, den Film noch besser einordnen zu können.
Dabei ist Orangerie nicht etwa unklar. Sondern seine Bilder sind ziemlich unspektakulär – gemessen an dem, was man gezeigt zu bekommen erwartet aus einem Spital, das vor noch gar nicht allzu langer Zeit auch deshalb als Geckenhaus verschrien war, weil das Asyl mit dem hässlichen grauen Building in der Mitte weitgehend abgeschottet gegen Einblicke von außen blieb. Dagegen sieht, was Schiltz und Majerus zeigen, zunächst einmal nicht nach viel mehr aus als nach banalem Krankenhausalltag.
Doch bald schon ereignen sich in diesem Alltag besondere Dinge. Ohne sich zu sehr auf bestimmte Personen zu konzentrieren, verfolgt die Kamera Patienten, Ärzte und Pflegepersonal in ihrem Umgang miteinander: im Krankenzimmer, in Therapiesitzungen oder bei Team-Besprechungen am Kaffeetisch. Die Bilder machen klar: Offenbar ist die Abteilung Orangerie 1 am CHNP keine Station für psychiatrisch Schwerstkranke, sondern dient zur Rehabilitation. Dazu werden die Patienten wochen-, vielleicht sogar monatelang betreut. Der Film zeigt, dass sich dabei zwischen den Patienten enge Beziehungen entwickeln können. Er zeigt, dass Ärzte und Pfleger durchaus ratlos werden können, falls ein Patient sich standhaft seiner Therapie verweigert und dabei meint, ganz gesund und im besten eigenen Interesse zu handeln. Und er deutet an, dass die Arbeit auf einer psychiatrischen Station das Risiko enthält, lethargisch zu werden: In einer Szene beispielsweise wird erwähnt, dass ein Patient aus der Orangerie 1 davongelaufen ist. Eine Pflegerin und einen Pfleger kostet es fast zwei Minuten der Besinnung, ehe sie sich entschließen, die Polizei zu verständigen.
Für Anne Schiltz ist Orangerie der dritte Dokumentarfilm nach Stam – nous restons-là (2007) und Charges communes (2012). Für Benoît Majerus ist es der erste. Wie das junge Dokumentaristenduo eine knappe Stunde lang vom menschlichen Faktor in der Psychiatrie erzählt, enthält so viele sensibel beobachtete und starke Momente und weckt immer wieder genug Mitgefühl, dass formale Schwächen, die der Film hat, letzten Endes nicht schwer wiegen. Gelegentlich sind seine Bilder bei aller streunend-beobachtenden Erzählhaltung doch zu absichtslos aneinandergereiht. Manchmal hat Anne Schiltz die Kamera so schnell geschwenkt oder hat so rasant eingezoomt, dass es unangenehm auffällt, weil es keinem dramaturgischen Ziel dient.
Was mit Schiltz und Majerus zu diskutieren bliebe, falls sich die Gelegenheit ergibt, wäre die Frage, wie die Recherchen zum Film verliefen und wie lange die „Vertrauensarbeit“ mit Patienten und Personal der Orangerie 1 dauerte, ehe der erste Dreh beginnen konnte: In diesem Fall wäre das nicht nur eine an Dokumentaristen häufig gestellte Frage, sondern eine durchaus gesellschaftliche und politische, um zu verstehen, wie weit die Psychiatriereform vor Ort im CHNP gekommen ist. Zu fragen wäre aber auch nach der politischen Beschwerde, die Orangerie enthält. An einer Stelle, und nur an dieser einen, gaben die Filmemacher ihre distanzierte Haltung auf und ließen einen Krankenpfleger unmittelbar zum Zuschauer sprechen, das in den Luxemburger Krankenhäusern benutzte System zur Erfassung des Pflegeaufwands erlaube es nicht, „richtig mit den Patienten zu arbeiten“. Weil nur Insider wissen, dass dieses System PRN, das aus Kanada kommt, in allen Spitälern verhasst ist, wäre Aufklärung darüber verlangt, inwiefern es den menschlichen Faktor in der Psychiatrie beeinflusst. Wenn es nicht sogar der Stoff wäre für eine Fortsetzung zu Orangerie.