Der glücklichste Tag. Irgendwo in der DDR, in der Provinz, fernab von Ost-Berlin, der damaligen Hauptstadt. Es ist der 1. Mai 1986. Der „Internationale Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse“, ein Hochamt im real existierenden Sozialismus. Die sechsjährige Monika freut sich seit langem auf das Fest, auf die Parade und die versprochene, ersehnte Zuckerwatte. Der Vater ist betrunken, tyrannisiert die Mutter und das Familienleben, entzieht sich dem Feiertagsrummel auf seine ganz eigene Weise und lässt Mutter und Tochter alleine zum Fest gehen. So routiniert die Geschichte klingt, so deutlich zeigt sie in kleinen, nebensächlichen Augenblicken die Wirklichkeit des Alltags. Es ist nicht das hehre Glück im Arbeiter- und Bauernstaat, das als Staatsräson über allem und allen schwebt, sondern es sind Hürden und Hemmnisse, es sind Unglücke und Wendungen, die dem Tag in seinem strahlend schönen Sonnenschein dunkle Wolken schicken. Der Vater alkoholkrank. Die Mutter abwesend aus ihren Sorgen um die Familien und ihr eigenes Glück. So zeigt es der Film Der glücklichste Tag von Renata Nasseri, bei dem der Luxemburger Nikos Welter die Kamera führte.
Der Film wurde an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) rea-lisiert. Nasseri schrieb das Buch und führte auch die Regie in dem Kurzfilm, der von Welter in betörend, verstörend schönen Bildern aufgenommen wurde. Was in seiner Inhaltsbeschreibung anmutet wie ein weiterer Film zur deutschen Einheit, zum Untergang der DDR und zum Mauerfall, entwickelt und entfaltet sich als ein gelungener Film über Momente, die für ein kleines Mädchen zum glücklichsten Tag ihres Lebens werden, und über Augenblicke, die ein Sittengemälde einer Gesellschaft und eines Staates zeichnen, die beide eigentlich ganz anders sein möchten. Der Film offenbart den Widerspruch zwischen erlebtem Glück und vorgegaukeltem, befohlenem und verordnetem Glücklichsein.
Der Kurzfilm wurde zum größten Teil von Nikos Welter mit der Handkamera in Szene gesetzt. „Die Handkamera-Arbeit ist für mich eine sehr persönliche und feinfühlige Arbeit“, erklärt Welter, „weshalb ich besonderen Wert auf solche Sequenzen lege und darauf bestehe, die Kamera selbst zu führen.“ Anstatt – wie üblich – bei der gewöhnlichen Aufteilung der Kameraarbeit zu bleiben. „Bei diesem Film, der fast ausschließlich von der Schulter gefilmt wurde, war das dankbarer Weise größtenteils der Fall.“ Für ihn nehme die mit dem Körper verbundene Kamera eine fast mehr mitfühlende als nur beobachtende Rolle ein. „Sie kann ganz subtil auf das Schauspiel und die so entstehenden Figuren eingehen“, führt Nikos Welter aus. Seine Arbeit könne somit zu einem Teil der entstehenden Filmrealität werden. „Es ist eines der direktesten und persönlichsten Gestaltungsmittel für einen Kameramann.“ Welter gelingt es dennoch, Distanz zu wahren, aber gleichzeitig Nähe zuzulassen, auf die Perspektive des Kindes einzuschwenken, aber dennoch Betrachter mit dem nötigen Abstand zum Geschehen zu bleiben, der in der Schlüsselszene des Films äußerst wichtig ist. So bleibt der schmale Grat, den der Film zu zeigen scheint, zwischen Rührstück und Familiendrama gewahrt. Es ist eine weitere gemeinsame Arbeit von Welter mit der Regisseurin Nasseri. Beide sind Absolventen der DFFB. Das Vertrauen, das Regisseurin und Kameramann zueinander aufgebaut haben, zeigt sich in diesem Film auf besondere Weise.
„Die Ereignisse des Tages werden Monika für immer verändern“, führt die Inhaltsangabe zum Film aus. Und weiter: „Paradoxerweise wird dieser Tag zum glücklichsten ihres Lebens.“ Damit spannt das Werk in seinen vierzehn Minuten das gesamte Paradoxon des Glücks in der Philosophie auf. Gibt es in allen Stürmen und unheimlichen Schicksalswindungen des Lebens Nischen des Glücks? Der Film spielt am 1. Mai 1986 und damit wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Während sich eine unsichtbare, unheilvolle Wolke an Radioaktivität über das östliche Europa spannt, feiern die Menschen in der Provinz ihren Traum von Glücklichsein. Selbstredend mit Blaskapelle, die einerseits mit ihren Pauken und Trompeten kleine Kinder fasziniert, für Erwachsene jedoch ein misstönendes Kaderinstrument war – das Kinderlieder spielt. Monika singt dieses gerne. Der Text folgt für sie der eingängigen Melodie. Ihre Mutter mag das Lied nicht. In Vorausahnung dessen, was noch geschehen mag. Am glücklichsten Tag. Der am Abend doch noch seinen Helden kennt.