Als die Abgeordnetenkammer im vergangenen Jahr die Rentenreform verabschiedete, herrschte so gut wie Einigkeit darüber, dass sie nur ein Anfang sein sollte. Lediglich der einsame Lénk-Abgeordnete Serge Urbany fand die Reform eine Zumutung: Weil sie eine Pension à la carte einführte, für die man in 40 Jahren drei Jahre länger gearbeitet haben müsste, um eine Rente in heutiger Höhe zu beziehen. Weil die Reform die 2001 am Rentendësch beschlossene Jahresendzulage abzuschaffen beschloss, sobald das Verhältnis der Jahresausgaben zu den Jahreseinnahmen der Pensionskasse größer zu werden droht als der aktuel-le Beitragssatz. Und weil dann auch die Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung um mindestens die Hälfte gesenkt, wenn nicht gar ganz abgeschafft werden soll.
Dem Rest der Opposition aus DP, Grünen und ADR ging die Reform nicht weit genug. Aber selbst die Regierungskoalition war nicht unbedingt anderer Meinung. Demnach wäre es an der nächsten Regierung, mit einer Reform 2.0 zu besorgen, was die scheidende Koalition für politisch noch nicht durchsetzbar hielt.
Weil ihre Nachfolgerin dafür zumindest halbwegs vom Wähler mandatiert sein müsste, hätten die Wahlprogramme über die Inhalte einer zweiten Reformrunde aufklären müssen. Vor allem die von CSV, LSAP, DP und Grünen, von denen anzunehmen ist, dass sie, in welcher Konstellation auch immer, die nächste Regierung bilden werden. Die Wähler waren immerhin sensibilisiert: In der Politmonitor-Umfrage von TNS Ilres für RTL und Luxemburger Wort meinten die Befragten, der Wahlausgang entscheide sich vor allem an den Themen Beschäftigung und Renten.
Doch eigenartigerweise blieben die Parteien zur Rentenfrage wortkarg. Das CSV-Programm widmete ihr nur drei Sätze: Die Reform von 2012 sei nicht weit genug gegangen. Weitere Schritte müssten folgen. Beitragserhöhungen zur Rentenversicherung werde es mit der CSV nicht geben.
Das letzte Bekenntnis hatte es durchaus in sich: Es war eine Abkehr vom Reform-Deal von 2012. Der sollte nach allen Seiten ein wenig Schmerz verursachen. Die Pension à la carte soll, über 40 Jahre gestreckt, nach und nach die Berufstätigen belasten und sie 2052 vor die Wahl stellen, entweder drei Jahre länger zu arbeiten oder eine gegenüber heute um bis zu zwölf Prozent kleinere Rente hinzunehmen. Dass die Jahresendzulage gestrichen und das Ajustement gekürzt werden soll, sobald die Lage der Pensionskasse sich verschlechtert, soll die Rentner belasten.
Dass bei schlechterer Kassenlage auch die Beiträge erhöht werden könnten, wurde zwar schon 2012 nur zaghaft angekündigt, aber immerhin: Auch die CSV-Minister trugen die Idee noch mit, von den derzeit drei Mal acht Prozent Beitrag auf die Bruttolohnmasse, den die Versicherten, ihre Arbeitgeber und die Staatskasse tragen, auf drei Mal zehn Prozent zu wechseln. So hatte es der von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden getragene Wirtschafts- und Sozialrat für denkbar festgehalten – allerdings stammt die Abmachung aus den Achtzigerjahren. Heute will der Unternehmerdachverband UEL davon mit Verweis auf den Standortfaktor Lohnnebenkosten nichts mehr wissen. Doch nur das Ensemble von Pension à la carte, gestrichener Jahresendzulage, gekürztem Ajustement und höheren Beiträgen sollte dazu führen, dass die „implizite Staatsschuld“ für künftige Rentenleistungen bis 2060 nicht auf 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stiege, sondern nur auf 30 Prozent. Wer das ohne Beitragserhöhungen erreichen will, müsste in der nächsten Legislaturperiode entweder die Rentenleistungen weiter senken, oder für wesentlich längere Lebensarbeitszeiten sorgen, als die Pension à la carte sie künftigen Rentnern lediglich als eine langfristige Option anbietet.
Doch so weit wagte keine der vier großen Parteien sich vor. Der unternehmernahe Lobbyverband 5 vir 12 hatte schon Recht, als er diese Woche der ADR bescheinigte, am konsequentesten in Richtung längerer Beitragsdauern und gekürzter Leistungen steuern zu wollen: Kurioserweise war es tatsächlich die frühere Rentenpartei, die die konkretesten Vorschläge machte und die Ideen wiederholte, die sie schon ins Spiel gebracht hatte, bevor 2011 der erste Reformentwurf publik wurde: Die ADR würde die Rentenanpassung nicht erst bei schlechterer Kassenlage kürzen, sondern sie ab sofort und zeitlich gestaffelt abschaffen, dabei aber kleine Renten aussparen. Und ginge es nach der ADR, würde ab 2015 und dann während zwölf Jahren die Altersgrenze für den Antritt einer Frührente und einer vorgezogenen Altersrente Jahr für Jahr um einen Monat nach hinten verlegt. So dass im Jahr 2026 eine Frührente erst mit 58 Jahren angetreten werden könnte, die vorgezogene Altersrente erst mit 61.
Dagegen kann man nur darüber spekulieren, ob womöglich eine schwarz-blaue oder eine schwarz-grüne Koalition eine Reform 2.0 auflegt, in der die Leistungen der öffentlichen Pensionskasse auf eine Art Grundversorgung gesenkt und alles weitere privater Vorsorge überlassen würde. Im Wahlprogramm der Grünen wurde dem „öffentlichen, umlagefinanzierten System“ die Rolle einer „Hauptsäule“ zugewiesen, die um „eine private, steuerlich begünstigte zweite Säule ergänzt“ würde. Konnte man das noch so verstehen, als seien die aktuellen Leistungen viel zu großzügig, wenn sogar Renten von 6 000 Euro garantiert, indexiert und ajustiert werden, schien die DP noch ein Stück weiter gehen zu wollen: Man müsse, erklärte Zentrums-Spitzenkandidat Xavier Bettel am Sonntag an der Table ronde von RTL Télé Lëtze-buerg, „den Leuten die Wahl lassen und sie in die Verantwortung nehmen: selber vorsorgen, privat Beiträge entrichten“. In ihrem Wahlprogramm meinte die DP damit sämtliche Leute im arbeitsfähigen Alter: Auch „Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen“ sollten „aus einer Selbstvorsorge mehr Renten beziehen können, als das öffentliche System bieten kann“.
Vor allem das DP-Bekenntnis suggeriert, dass die Rentenfrage zu einem großen Stein des Anstoßes werden kann, falls am Sonntag tatsächlich eine Ampelkoalition ohne die CSV mehrheitsfähig würde. Obwohl auch die Sozialisten mehr private Vorsorge ermöglichen wollen, schienen sie aber etwas anderes zu meinen als die Grünen und vor allem die DP. Im LSAP-Wahlprogramm tauchte die in der Pensionsreform schon gemachte Ankündigung auf, eine Zusatzrentenanstalt „ohne Gewinnzweck“ einzurichten, in die „freiwillig“ einzahlen soll, wer das möchte. Die LSAP stellte jedoch mit keinem Wort das aktuelle System infrage und bestand darauf, für seine „mittel- bis langfristige Absicherung“ habe die Rentenreform vom vergangenen Jahr „die Weichen gestellt“. Außerdem plädierte sie für „verkraftbare Beitragserhöhungen“, sobald sie „notwendig sein werden, um das System als solches dauerhaft abzusichern“. Die DP dagegen wand sich und formulierte geschraubt, Beitragserhöhungen „sollten nicht unabdingbar sein“. Die Grünen äußerten sich dazu gar nicht.
Aus all dem folgt jedoch weder, dass Koalitionsverhandlungen von LSAP, DP und Grünen wegen der Rentenfrage in Gefahr geraten werden, noch, dass eine schwarz-blaue oder schwarz-grüne Regierung neben die öffentliche Rentenkasse die private Vorsorge stellt; nicht zuletzt, um die Unternehmen zu schonen. Garantiert die Pensionsreform von 2012 doch in einem Gesetzesartikel die aktuellen Beiträge bis Ende 2022. Und Schätzungen der nationalen Pensionskasse zufolge könnte frühestens ab 2019 der Beitragssatz von dreimal acht Prozent nicht mehr ausreichend sein. Damit bliebe Zeit genug, um eine Reform 2.0 erst im Wahlkampf 2018 zum großen Thema zu machen.
Dass akuter rentenpolitischer Handlungsbedarf in der nächsten Legislaturperiode noch nicht besteht, dient vor allem den großen Volksparteien. Der LSAP mit den vielen Linken an ihrer Basis und dem OGBL als Kraft im Hintergrund; aber auch der CSV, die über die erste Pensionsreform ziemlich gespalten war, in der ein liberaler Flügel einschneidendere Maßnahmen wollte, während der befreundete christliche Gewerkschaftsbund LCGB lange in einer „Einheitsfront“ mit OGBL und CGFP gegen den Reform-entwurf protestierte und der CSV-Rentnerverband ebenfalls dagegen aufbegehrte. Wer in der nächsten Legislaturperiode wirklich eine zweite Pensionsreform wollte, müsste sich auch der Frage zuwenden, ob sie nicht die Gesellschaft spalten würde, falls man die Beamtenrenten im Übergangsregime, für die noch das Fünf-Sechstel-Prinzip gilt, nicht ebenfalls kürzt. Keine einzige Partei aber traute sich, diesen Punkt im Wahlkampf auch nur zu erwähnen. Es hätte sicherlich Stimmen gekostet.
Rentenpolitisch ruhig muss die nächste Legislaturperiode trotzdem nicht bleiben. Einerseits, weil im Rahmen Europäischer Semester neuer Druck aus dem Europäischen Rat und der Eurogruppe entstehen könnte, die „implizite Staatsschuld“ Luxemburgs weiter abzubauen als die Rentenreform von 2012 erreichen will. Andererseits, weil schon am Neujahrstag 2014 geschehen könnte, womit kein Regierungspolitiker rechnete, als die erste Reform aufgestellt wurde: Die bestehenden Renten könnten sinken.
Denn dem diese Woche vom Statistikinstitut Statec vorgestellten Bericht Travail et cohésion sociale ist zu entnehmen, dass zwischen 2008 und 2012 die Reallöhne um 0,2 Prozent gesunken sind. Das ist auf die Inflation und ausgebliebene Index-tranchen zurückzuführen, aber auch auf moderatere Lohnabschlüsse und im Zuge der Krise weggefallene Hochlohn-Arbeitsplätze in der Finanzbranche, und war schon lange nicht mehr da. Am 1. Januar 2014 aber müssen die aktuellen Renten an die Reallohnentwicklung angepasst werden. Zwar sind die Statec-Daten nicht die einzige Grundlage für die Anpassungsformel, doch dass die Renten sinken könnten, und sei es auch nur um ein paar Euro, ist nicht auszuschließen.
Und zum Verdruss der nächsten Regierung könnte sich das Jahr für Jahr wiederholen: Vor Inkrafttreten der Pensionsreform von 2012 lag es noch im politischen Ermessen des Regierungsrats, die eigentlich alle zwei Jahre automatisch fällig werdende Rentenanpassung doch auszusetzen. Das ist nun vorbei: Die Reallohnentwicklung wird völlig automatisch weitergereicht. Neue Renten werden auf den Reallohnstand des vorletzten Jahres „revalorisiert“. Schon bestehende Renten werden alle zwei Jahre „reajustiert“. Eigentlich aber sollte erst ab 2019 dieses Réajustement um die Hälfte gekürzt oder ganz abgeschafft werden müssen, falls der Beitragssatz dann zu klein würde, um die Reserve der Pensionskasse weiter zu füllen. Wie die Dinge liegen, könnte dieser Korrekturmechanismus, auf den der sozialistische Sozialminister als „Stellschraube“ für den Ernstfall so stolz ist, schon in zweieinhalb Monaten nicht nur zur Hälfte, sondern voll funktionieren und die Rentenanpassung erst einmal Geschichte sein. Dass Gewerkschaften und Unternehmer sich darauf ihren politischen Reim machen würden – damit ist zu rechnen.