Die Christlich-soziale Jugend, die Nachwuchsorganisation der CSV, hatte am 22. Mai 2009 eine Wahlkampfveranstaltung unter dem für Konservative kecken Titel „Juncker meets Marx“ arrangiert. Vier Jahre später, am 31. August 2013, stellte sie wieder ihre Kandidaten vor. Die Einladung zu dem Treffen schloss diesmal mit der Klarstellung: „Mir stinn fir eng Evolutioun amplaz eng Revolutioun.“
Droht dem Großherzogtum am Sonntag eine Revolution? Sicher ist, dass der Ausgang der Kammerwahlen offener ist als bei den vorigen Wahlgängen. Denn die Regierung stürzte, die Wahlen wurden vorgezogen, der bisherige Regierungschef und seine Stabilität versprechende Partei sind durch ihre Affären destabilisiert. Sicher ist auch, dass es zumindest zu Beginn des Wahlkampfs einen Ruf nach Veränderung der politischen Verhältnisse gab.
Nach neun Jahren in der Regierung stellte die LSAP in ihrer Wahlkampfpropaganda fest: „Lëtzebuerg brauch en Neiufank.“ Spitzenkandidat Etienne Schneider wollte, so sein Vorwort in der neusten LSAP-Wahlzeitung, „zeigen, dass die LSAP für einen Neuanfang und Politikwechsel steht“. „Wir werden die Fenster in diesem Land groß aufreißen“, heißt es im LSAP-Wahlprogramm – auch wenn davon am Mittwoch im Fernsehduell zwischen Schneider und Jean-Claude Juncker schon nicht mehr viel zu hören war.
Der grüne Mitspitzenkandidat François Bausch erklärte dem Lëtzebuerger Land vor sechs Wochen: „Ich kämpfe für den Wechsel“, und versprach: „Die Grünen spielen eine entscheidende Rolle für den Wechsel.“ Er wollte „eine Mauer durchbrechen“, den von der CSV dominierten Koalitionsreigen.
Ähnliche Töne brachten auch die anderen Linksparteien in den Wahlkampf: „Déi Lénk nehmen“, in der Einleitung ihres Wahlprogramms, „die politische Bankrotterklärung von CSV und LSAP zur Kenntnis und setzen sich für einen demokratischen Bruch mit diesem System ein.“ Für die Kommunistische Partei kann es sogar „keine Lösung der Krise im Interesse der Schaffenden geben, ohne generell dieses Gesellschaftssystem, das immer wieder Krisen produziert und sie in der Vergangenheit mehr als einmal mit Kriegen löste, in Frage zu stellen, abzuschaffen“.
Doch selbst die rechte ADR schrieb in ihrem Wahlprogramm: „Wir brauchen eine Politik, die nicht einfach weitermacht wie bisher, sondern wir müssen tiefgreifende Reformen durchführen, die Luxemburg zukunftsfähig machen.“ „Luxemburg hatten noch nie einen Neustart so nötig wie heute“, meinte auch der Präsident der Piratenpartei, Sven Clement, im Vorwort zu seinem Wahlprogramm Reboot Luxembourg. Selbst Jean Colomberas Partei für integrale Demokratie sprach sich in ihrem Grundsatzprogramm aus für „einen Systemwechsel, für eine repräsentative Regierung aller politischen Farben, dafür, die Probleme an der Wurzel anzupacken (nicht an Symptomen herumzudoktern)“.
Da die ganze Wechsel- und Erneuerungsbewegung im Wahlkampf gegen die CSV gerichtet war, begeisterte die sich verständlicherweise am wenigsten dafür. „Aber wir haben Ideen und unterbreiten Vorschläge, wie wir unser Land weiter verbessern und modernisieren können. Manches muss sich in den kommenden Jahren ändern, damit wir ein zukunftsfähiges Land bleiben“, räumte sie in ihrem Wahlprogramm ein.
Doch auch die DP hielt sich zurück und versprach unverfänglich „besser Léisunge fir eist Land“. Sie hielt sich offenbar in Reserve für eine CSV/DP-Koalition, die ihr als wahrscheinlichste Konsequenz der Wahlen am Sonntag erschien.
Ganz anders dagegen die sonstigen tatsächlichen und angeblichen Oppositionsparteien. Auch wenn sich ihr Eifer inzwischen schon deutlich gelegt hat, packten Teile der LSAP und Grünen ihren Ruf nach einem Wechsel und Neuanfang in die griffige Formel einer Dreier-Koalition. Wenn LSAP, DP und Grüne am Sonntag auf 32 Sitze kommen, hofften sie, auch die DP von einer rot-blau-grünen Reformkoalition ohne CSV, in der Tradition des antiklerikalen Linksblocks vom Anfang des 20. Jahrhunderts und der Mittelinkskoalition zwischen 1974 und 1979 zu überzeugen.
Dass ein Wechsel und Neuanfang eine solche Bedeutung in diesem Wahlkampf spielten, hat gleich zwei Ursachen: Die Wickringen-Livingen-, Cargolux-, Bommeleeërten- und Geheimdienstskandale rufen schier nach neuen Saubermännern, und die offenbar nicht enden wollende Krise scheint ein neues Wirtschafts- und Sozialmodell zu verlangen.
Deshalb meldeten sich die Unternehmerorganisationen so lautstark wie schon lange nicht mehr in einem Wahlkampf zu Wort. Der Dachverband Union des entreprises luxembourgeoises (UEL) und die Industriellenföderation Fedil, die von der Handelskammer finanzierte Initiative 2030.lu und der Unternehmerverein 5 vir 12 riefen nach einem Wechsel und nach Veränderung, organisierten Debatten und kauften Meinungsumfragen, um Druck auf die Parteien und Kandidaten auszuüben, damit sie die bestehenden Verhältnisse ändern.
Im Vorwort ihrer Schrift Les Essentiels de la Compétitivité schrieb die UEL, dies sei eine „invitation aux partis politiques à oser le changement, le renouveau, à prendre à bras-le-corps les véritables problèmes dont souffre le pays et à préparer, de concert avec les parties prenantes, l’ensemble de nos citoyens à l’avenir en toute ouverture et transparence“. Die Initiative 2030.lu freute sich in ihrem Wahldossier über ein angebliches Plebiszit für die von ihr angestrebte Veränderung: „En juin 2013, l’initiative ‚2030.lu – Ambition pour le futur’ a commandité un sondage portant sur la nécessité, ou non, de conduire des réformes, des changements, afin de faire face aux défis identifiés du pays. Le résultat est écrasant : Pour non moins de 94,8% des interrogés, des changements s’imposent afin de préserver la qualité de vie et de préparer le pays face aux défis actuels. La seule question qui polarise, c’est l’horizon temporel. En effet, 47,4% des sondés estiment que des changements seront nécessaires à terme et pour 47,4% des interrogés, des changements s’imposent très rapidement.“
Dagegen verhielten sich die Gewerkschaften sehr zurückhaltend. Sie befürchteten, dass ihr langjähriges Lieblingswort „Reform“ das Lager gewechselt hat. In seiner Ansprache zum Beginn der Sozialwahlkampagne warf OGBL-Präsident Jean-Claude Reding vergangene Woche den Unternehmerverbänden vor: „Es wurde gesagt, dass ein Umdenken kommen müsste, es müssten Reformen kommen, wir müssten uns an die Globalisierung anpassen, wir müssten flexibler und wettbewerbsfähiger werden. Wenn man hinter die Slogans, hinter die Erklärungen schaut, die konkreten Maßnahmen, die vorgeschlagen werden, untersucht, sieht man worum es geht. Es geht um eine Umverteilungspolitik zu Gunsten des Kapitals, eine Umverteilung von geschaffenem Reichtum zu Lasten der Lohnabhängigen, eine Umverteilung von unten nach oben.“
Obwohl er ebenfalls von Wechsel, Veränderung und Neuanfang handelt, verhält sich damit der 20. Oktober 2013 spiegelverkehrt zum 9. Oktober 1973. Vor 40 Jahren fand auf dem Höhepunkt eines Konjunkturzyklus eine breite Bewegung von unten statt, die in den Straßen der Hauptstadt dagegen protestierte, dass der CSV-Staat die gesellschaftspolitische Öffnung von Mai '68 verschlafen hatte. Unter diesem Druck kam nach den Wahlen 1974 eine Koalition ohne CSV zustande. Heute wäre die von der CSJ befürchtete Revolution eine Revolution von oben, die von Unternehmerorganisationen und ihren Kommunikationsberatern in einer Krise gemanagt wurde..
So entstand das Paradox, dass diese Revolution von oben zumindest bis Sonntagabend einen unerwarteten neuen Held hat. Denn ursprünglich war es das uneingestandene Ziel der ganzen Bewegung, einem für immer reformunwilliger gehaltenen CSV-Premier Jean-Claude Juncker und eine angeblich unter der Fuchtel der Gewerkschaften stehenden LSAP loszuwerden. Doch nachdem die LSAP Juncker stürzte, mit Etienne Schneider einen neuen Spitzenkandidaten aus dem Hut zauberte und sich in eine lauter als alle anderen nach einem Wechsel rufende Oppositionspartei verwandelte, scheinen die Verhältnisse verkehrt: Bei einer Debatte der Spitzenkandidaten vor drei Wochen in Esch-Alzette wählten 65,8 Prozent der Zuhörer von 2030.lu ausgerechnet den sozialistischen Kandidaten zu ihrem Favoriten, bei einer Bewertung der Wahlprogramme vergab 5 bis 12 diese Woche an die LSAP die beste Note.
Weil aber der Druck von unten, wo die Wähler sitzen, fehlte, kühlte sich nicht nur Herrn Schneiders Mut zur Veränderung im Laufe des Wahlkampfs ab. Doch vielleicht sieht am Sonntag ein nennenswerter Teil der Wähler das noch anders.