Es ist ein Kreuz mit Europa, mit dem Kontinent und dessen politischer Union. Die einen möchten mehr, die anderen weniger, einer gar nicht mehr und andere nur diejenigen Errungenschaften, die ins persönliche Machterhaltungsprogramm des jeweiligen Staatenlenkers passen. Die Zeit ist wohlfeil mit möglichst vielen Visionen und Strategien zur Europäischen Union auf dem Markt der politischen Eitelkeiten auf sich aufmerksam zu machen und im Gespräch zu bleiben. Während Martin Schulz, Chef der deutschen Sozialdemokraten, binnen sieben Jahren die Vereinigten Staaten von Europa schaffen möchte, setzt der Publizist und langjährige Europaabgeordnete der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, auf den Prozess des Gesundschrumpfens.
Blaupause dazu sind – nach Meinung Cohn-Bendits – die derzeit laufenden Brexit-Verhandlungen zwischen der Union und Großbritannien. Dies sei durchaus ein Modell für kooperationsunwillige Mitgliedsstaaten wie Polen, Tschechien und Ungarn, wie der Politiker gegenüber der Nachrichtenagentur AFP erklärte. Diesen Staaten solle es fortan freigestellt werden, die EU zu verlassen, wenn sie sich nicht an der geplanten Neugestaltung des Bündnisses beteiligen wollen. „Die Verhandlungen über den Brext sind Musterverhandlungen für solche Situationen“, führte Cohn-Bendit aus.
Der frühere Ko-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament gab in dem Gespräch eine durchaus düstere Prognose für die EU ab. 14 Jahre nach dem Beitritt der osteuropäischen Länder zur Union im Mai 2004 werde es „zu einem Trennungsprozess“ kommen. Es sei dabei absehbar, dass die Staaten der Eurozone künftig ihre milliardenschweren Kohäsions- und Agrarfonds für all jene Länder reduzieren würden, die das Prinzip der Solidarität nicht teilten. „Dann wird es eine Abspaltungsbewegung dieser Länder geben“, mutmaßte der 72-Jährige. Zum Vorteil der EU, denn diese könne sich dadurch „gesundschrumpfen“. Für Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn soll es dann eine Form der „privilegierten Partnerschaft“ geben, so wie sie derzeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ausgehandelt werde – etwa in Form einer Zollunion.
Cohn-Bendit bekundete darüber hinaus seine Sympathie für die Europa-Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron: „Für ihn ist die Ausgestaltung der Eurozone die Bedingung dafür, dass Europa handlungsfähig in der Welt ist“, so Cohn-Bendit. Deshalb seien auch Macrons Pläne für einen gemeinsamen Eurozonen-Haushalt, einen Finanzminister der Eurozone und eine gemeinsame europäische Armee richtig. Die deutsche Haltung zu Macrons Vorschlägen werde „eine der zentralen Auseinandersetzungen der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD“, sagte Cohn-Bendit weiter. Denn anders als Teile der Union unterstütze die Sozialdemokraten Macrons Pläne für einen gemeinsamen Haushalt in der Eurozone.
Cohn-Bendit rief deutsche Politiker in diesem Zusammenhang auf, ihre „Pawlowsche Reaktion“ aufzugeben, dass Neuerungen in Europa nichts kosten dürften. „Es geht nicht um das deutsche Geld, das hat Macron immer gesagt“, führte der Europaexperte der Grünen aus. „Es geht um eine gemeinsame Handlungsfähigkeit, und da bin ich optimistisch, dass das in Gang kommen könnte.“ So setzt der Politiker darauf, dass Deutschland und Frankreich ihre Partnerschaft in einem „neuen Élysée-Vertrag“ besiegeln werden, wie es Macron vorgeschlagen hat. Darin könnten erstmals die Frage einer europäischen Armee eine Rolle spielen sowie „der Klimawandel und die neuen Sicherheitsbedürfnisse der Welt“ – anders als in dem Abkommen zwischen dem früheren Kanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Präsident Charles de Gaulle von 1963. Spätestens „zu Silvester 2019 wird ein neuer Élysée-Vertrag stehen“, prophezeit Cohn-Bendit. Das ist wohlgemeint. Doch da ist auch die derzeitige Behäbigkeit der deutschen Politik, die in Zeiten wie diesen viel Raum braucht, um eine Regierung zu bilden und kopflos in Europa dasteht. Berlin versäumt es derzeit sträflich, dem französischen Präsidenten eine Partnerschaft anzubieten.
Hinzu kommt, dass das Thema „Europa“ in der Union an Popularität verloren hat. Wieder einmal, noch immer, die Europaeuphorie der Siebziger- und Achtzigerjahre ist längst vergangen. Es rächt sich nun bitterlich, dass Brüssel in den vergangenen Jahren stets als supranationaler Bösewicht für eigenstaatliches Versagen herhalten musste. Und auch dafür, dass es die Union nicht mehr schafft zu begeistern, zu vermitteln, Ziele und Wege aufzuzeigen. Dies sind in der Tat Probleme, die dem Luxus und dem Wohlbefinden in der Behaglichkeit der Europäischen Union geschuldet sind. Es rächt sich aber auch, dass die westeuropäischen Staaten die osteuropäischen noch immer als undankbare Neulinge behandeln, die belehrt und erzogen werden müssen, die nicht mitgestalten, sondern vorgesetzt bekommen. In genau diesen Duktus fallen die Pläne und Visionen sowohl von Martin Schulz als auch von Daniel Cohn-Bendit.
Doch nicht nur die politischen Eliten der Mitgliedsstaaten, sondern auch die Bevölkerung muss sich fragen, ob sie Europa – einerseits in der heutigen Ausgestaltung, andererseits auch überhaupt – noch möchte. Es scheint der Trend der Stunde zu sein, einen homogenen, abgeschlossenen, wenn nicht gar abgeriegelten Nationalstaat zu wollen, der aus Brüssel alimentiert wird, um ein Leben in Saus und Braus zu garantieren – ohne jedwede Verpflichtungen. Das damit einhergehende „Europa à la carte“-Denken wird zunehmend zur Handlungsmaxime nationaler Politiker.
Es fällt auf, dass Europa immer dann aus dem Hut gezaubert wird, wenn gerade kein anderes Thema für politische Schlagzeilen reicht. So die Idee der Vereinigten Staaten von Europa von Martin Schulz, die zwar eine hehre Vision für das Bündnis sind, aber in der Ausformulierung der Vision deutliche Schwächen aufzeigte. Auffällig war dabei vor allen Dingen, dass es Schulz unmöglich war, während des Bundestagswahlkampfs im vergangenen Sommer über das Thema zu sprechen. Die künftige Bundesregierung ist mehr denn je gefordert, nun Antworten auf die Fragen zu finden, die Emmanuel Macron dieser Tage stellt. Denn gerade die deutsch-französische Zusammenarbeit, die damit verbundene Aussöhnung können ein Vorbild für ein stärkeres Europa sein. Cohn-Bendit: „Angesichts der Probleme in der Welt wird der Druck, mehr Europa zu denken, größer. Das sind beste Voraussetzungen dafür, – wie sagte Merkel: Wir werden das schaffen.“