Der Nachhaltigkeitsrat soll helfen, Akzeptanz für die nächste Runde Klimaschutzpolitik zu sichern. Dazu übte er am Montag mit „Schlüsselpersonen“ vernetztes Denken

Komplex wie Fred Feuersteins Auto

Tankstellen Wasserbillig
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 24.03.2017

Am Montagmorgen des 20. März trifft sich im obersten Stock des Héichhaus auf dem Kirchberg eine Gruppe aus vielleicht zwanzig Leuten zu einer nicht ganz alltäglichen Übung: Begleitet von einem Systemtheoretiker des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung sollen sie sich ein paar Stunden lang Klimapolitik „systemisch“ vorstellen. Man könnte auch sagen, mit „vernetztem Denken“, von dem regierende Politiker gern sagen, so gingen sie tagtäglich vor, während die Opposition ihnen das Gegenteil unterstellt.

Die zwanzig Leute sind Beamte aus Ministerien, Wissenschaftler, aber auch Vertreter von Umwelt- und Drittwelt-NGOs sowie Mitarbeiter der Handels- und der Handwerkskammer. Die Jugendkonföderation ist ebenfalls vertreten. Und ein Abgeordneter der Grünen.

Eingeladen hat sie der Nachhaltigkeitsrat (CSDD). Er soll im Auftrag von Umweltministerin Carole Dieschbourg (Déi Gréng) den Zweiten nationalen Klimaschutz-Aktionsplan evaluieren, den 2011 die CSV-LSAP-Regierung aufgestellt hatte. Der CSDD solle auch klären helfen, „wieso nicht jede Maßnahme in dem Aktionsplan von der Bevölkerung akzeptiert wurde“, sagt CSDD-Präsident Francis Schartz. Welche Maßnahmen das sind, sagt er nicht. Aber beim nächsten Aktionsplan, dem dritten, soll das besser werden. Wie das gehen soll, dazu soll der Nachhaltigkeitsrat Empfehlungen machen. 35 „Schlüsselpersonen“ wurden dazu interviewt – vertraulich, damit sie sagten, was sie denken. Eigentlich sollten sie alle an diesem Montag mitmachen bei der Übung in vernetzter Klimaschutzpolitikbetrachtung, doch viele sind verhindert. Darunter so wichtige und interessante Personen wie der Fedil-Direktor, der Salarariatskammerpräsident und frühere OGBL-Vorsitzende oder Carole Dieschbourgs Vorgänger Marco Schank von der CSV.

Das ist schade. Denn bei dem dritten Klimaschutz-Aktionsplan wird es um viel mehr gehen als beim zweiten. Durch den soll Luxemburg bis 2020 seinen Treibhausgasausstoß gegenüber 2005 um 20 Prozent senken. Der dritte Plan wird festlegen, wie sich bis 2030 minus 40 Prozent erreichen lassen sollen. Das ist die Vorgabe, die Luxemburg im Juli vergangenen Jahres in der „EU-Lastenteilung“ erhalten hat, weil das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt keines anderen EU-Staats den EU-Durchschnitt derart übersteigt. Nur Schweden soll seine Emis-
sionen ebenfalls so stark reduzieren. Aber minus 40 Prozent seien nur relativ viel, sagt ein Spitzenbeamter des Nachhaltigkeitsministeriums: Luxemburg käme damit 2030 auf einen Pro-Kopf-Ausstoß, der noch immer so hoch wäre wie der Deutschlands heute schon. CSDD-Präsident Schartz findet, die EU müsse „ein Zeichen setzen“. Sie dürfe sich „nicht beirren lassen, wenn Donald Trump seiner Umweltbehörde die Mittel kürzt“.

Es geht also um Klimaschutz als moralische und politische Pflicht, aber auch als Chance: Der Name „Rifkin“ fällt und es heißt, die Herausforderung sei unter anderem die, „den Ressourcenverbrauch vom Wachstum zu entkoppeln“ und damit auch der heimischen Wirtschaft Impulse zu geben. Ob Jérôme Dangerman dabei helfen kann?

Der Niederländer ist der Systemtheoretiker von dem weltbekannten Potsdamer Klimaforschungsinstitut. Aufgetrieben hat ihn Ariane König, die an der Universität Luxemburg zu „transformativem und sozialem Lernen für eine nachhaltige Entwicklung“ forscht. Ehe sie nach Luxemburg kam, beschäftigte sie sich in Oxford mit „partizipativen Prozessen“ innerhalb von Gesellschaften. „Zu oft“, findet sie, werde Politik „in Silos“ betrieben: eine für die Wirtschaft, eine für die Umwelt, eine für die Familien und so fort. Dabei beschleunige „der Wandel“ sich: das merke man in allen Bereichen der Gesellschaft, und wie die zusammenwirken, werde immer undurchsichtiger. „Uns halten komplexe Strukturen gefangen, die wir nicht sehen.“ An diesem Montag soll es darum gehen, ein wenig mehr zu sehen. Hoffentlich.

Jérôme Dangerman zeigt erst einmal, wie kompliziert das ist. An dem Potsdamer Institut hat er ein Modell des Welt-Energiesystems gebaut. Damit wollte er zum Beispiel demonstrieren, aufgrund welcher Einflüsse in traditionelle fossile Energieträger investiert wird, beziehungsweise in erneuerbare. Das Letztere boomen würden, ist eine relativ zutreffende Behauptung, denn erst seit ein paar Jahren spielen sie in der Welt-Energiebilanz, die die Internationale Energieagentur aufstellt, überhaupt eine nennenswerte Rolle. Aber immerhin. Doch wenn heute ein US-Dollar in „grüne“ Energieträger investiert wird, fließen gleichzeitig zehn Dollar in Kohle, Öl und Gas. Das riesige Modell an Einflussfaktoren, die miteinander wechselwirken und zu Ergebnissen führen, die wiederum neue Einflüsse nehmen, ist freilich so komplex mit den vielen Kreisen und Kästen, die über Graphen miteinander verbunden sind, dass der Systemtheoretiker selber sagt, es sehe aus „wie Fred Feuersteins Auto“ aus der TV-Serie The Flintstones. Wer etwas in der Art für Luxemburgs Klimapolitik aufstellen wollte, und das nur innerhalb von ein paar Stunden, muss sich jetzt entmutigt fühlen.

Doch eine erste Handhabe gibt es: Die 35 Interviews zum Thema, die der Nachhaltigkeitsrat führen ließ, haben hundert Einflussfaktoren ergeben, die offenbar besonders wichtig sind, weil sie in den Interviews immer wieder erwähnt wurden. Jetzt liegen sie als „Faktorkarten“ auf einem großen Tisch. Die hundert Schlagwörter reichen von „Top-down-Entscheidungen“ über „Innovation“ und „Kreislaufwirtschaft“ bis hin zum „Tanktourismus“ und dem „Turbokapitalismus“. Jeder der 20 Teilnehmer soll zwei oder drei seiner Ansicht nach wichtige Karten auswählen. In kleinen Gruppen sollen die Faktoren zusammengebracht und es soll überlegt werden, ob sie miteiander zusammenhängen und wie das wozu führen kann.

Die Übung ist nicht nur diffizil, weil nur die Wenigsten so etwas schon einmal gemacht haben. Sie ist es auch, weil Klimapolitik für Luxemburg generell schwierig ist. In seiner Fläche ist das Großherzogtum nur zweimal größer als die Stadt London. Der Boom Luxemburgs spielt sich vor allem in der Hauptstadt und ihrem Umland ab; dorthin pendeln viele Arbeitskräfte aus dem ganzen Land und den Grenzregionen ein und aus. Landesplaner nannten das schon vor zehn Jahren eine „Metropolenregion“, die 900 000 Menschen umfasse. Vielleicht kann man sie mit dem Finanzplatz Frankfurt und seinem Umland vergleichen. Der Unterschied ist nur: Der ökologische Fußabdruck Frankfurts interessiert viel weniger, weil er in dem Deutschlands aufgeht. Luxemburg dagegen ist ein Staat, unterliegt den Emissions-Reduktionsgeboten und der Lastenteilung der EU und musste sich schon vor 15 Jahren anhören, wegen seiner Niedrigakzisen-Politik auf Treibstoffe ein „Parasit“ zu sein.

Das ist das Problem, das sich für den dritten Aktionsplan besonders stellen wird. Zurzeit noch fährt das Land mit dem zweiten Plan recht gut. Dass der Treibhausgasausstoß bis 2020 um ein Fünftel kleiner ausfallen wird als 2005, ist zwar nicht sicher. Aber seit 2013 liegen die Emissionen unterhalb einer „Trajektorie“, die jedem EU-Staat vorgibt, wo er Jahr für Jahr bis 2020 stehen soll. Neueste Schätzungen des Nachhaltigkeitsministeriums gehen davon aus, dass die Trajektorie 2020 erneut überschritten werden könnte. Mit ein bisschen Glück aber wirkt sich dann positiv aus, wie lange man vorher besser war als die Vorgabe, denn Übererfüllungen werden gutgeschrieben; das hat die EU so festgelegt. Reichen die Gutschriften am Ende doch nicht, müsste Luxemburg sich durch Investitionen in Klimaschutzprojekte in anderen EU-Staaten freikaufen.

Dass das bislang nicht nötig war, liegt jedoch nur zum Teil an Politiken wie der Förderung energiesparenden Bauens. Einflussreicher sind die Entscheidungen der Nachbarländer über ihre Akzisen auf Sprit und Tabak, die das Tankstellengeschäft hierzulande seit vier Jahren schrumpfen lassen. Für LKW-Fernfahrer wurde dadurch das Tanken in Belgien interessanter. Klimapolitik ist für Luxemburg nicht zuletzt ein fiskalisches Problem. Das wusste schon die vorige Regierung, als sie sich vor sieben Jahren vor einer EU-weiten Angleichung der Dieselakzisen fürchtete, CSV-Finanzminister Luc Frieden aber nicht so weit gehen wollte, 2010 in seinem ersten Spuerpak nach der Welt-Bankenkrise auch noch einen Ersatz für die womöglich schrumpfende runde Milliarde Euro Tankstellen-Akzisen vorzusehen. Bei einem 40-Prozent-Reduktionsziel für 2030 allerdings wird kein Weg mehr vorbeiführen an einer Senkung des Spritexports.

Unter anderem um diesen Zusammenhang geht es auch bei der System-Übung am Montag. Eine der Gruppen schlägt provokativ vor, den „Tanktourismus“ einzudämmen, indem die Staatskasse auf Akziseneinnahmen verzichtete und das kompensiert würde durch eine Privatisierung des öffentlichen Rentensystems. Natürlich müsste eine Regierung, die das durchsetzen wollte, dafür politisch mandatiert von den Wählern sein. Sofern die zustimmen, könnten sie freilich anschließend feststellen, dass eine Privatsierung der Rentenversicherung ihnen schadet, was politisch schwer absehbare Folgen hätte. Aber andererseits: Ist der Mechanismus, von Grenzpendlern, durchreisenden Urlaubern und LKW-Fahrern die Staatseinnahmen aufbessern zu lassen, nicht das „Luxemburger Modell“ nicht-nachhaltiger Entwicklung?

Eine andere Gruppe fragt sich, wie Luxemburg zu „Suffizienz“ gelangen könnte, zu „Genügsamkeit“ also. Energiesparen, Elektroautos und Kreislaufwirtschaft könnten dazu positive Beiträge leisten, die im „Rifkin-Bericht“ beschriebene Digitalisierung auch. Wahrscheinlich aber werde das nicht reichen, weshalb ein „Comité de pilotage“ unter Leitung des Premierministers diskutieren lassen sollte, wie weit die Genügsamkeit gehen müsste.

Eine dritte Gruppe bezweifelt, dass viel mehr Energieeffizienz zu haben wäre, wenn man allein auf Anreize und Subventionen setzt. Einwirken auf Bürger und Unternehmen könne man dadurch wohl, es könnte auch eine Art Bewusstseinswandel geben. Aber wolle man bis 2030 den CO2-Ausstoß um 40 Prozent senken, komme man um „einschneidende Maßnahmen“ nicht umhin. Schluss sein müsse obendrein mit der „widersprüchlichen Energiepolitik zwichen den Ministerien“. Offenbar ist die Ansicht verbreitet, LSAP-Wirtschaftsminister Etienne Schneider halte billige Energiepreise für wichtiger als einen Wandel hin zu mehr Effizienz.

Weil die Workshop-Teilnehmer vor allem aus NGOs und ökologisch sensibilisierten Kreisen kommen, neigen sie dazu, sich eine Gesellschaft mit weniger Wachstum zu wünschen. Auch tun sie so, als stünde sie schon vor der Tür und als sei das mit sozialen Fragen vor allem insofern verbunden, als das reiche Luxemburg eine „Klimaschuld“ gegenüber Entwicklungsländern geldwert abzutragen habe. Dadurch bleibt die brisante Frage, wer denn in Luxemburg selbst Suffizienz üben soll, weitgehend außen vor. Mit dem Fedil-Chef und dem Salariatskammer-Präsidenten in der Runde wäre das vermutlich nicht passiert.

Trotzdem finden die Allermeisten die Übung wertvoll: Sie habe zu neuen Einsichten verholfen. Doch manche fragen sich, ob ihre Stimme Gehör findet, wenn die Regierung den dritten Klimaschutz-Aktionsplan aufstellt. Der soll deutlicher als sein Vorgänger „sektorielle“ Reduktionsziele festlegen: für den Transport, die Gebäude, den Energiesektor allgemein und erstmals auch für die Landwirtschaft. Vor allem, wer 2011 in der „Partnerschaft für Klima und Umwelt“ mitgewirkt hat, stellt sich die Frage nach der Teilhabe an den Entscheidungen. In der „Partnerschaft“ ließ seinerzeit CSV-Minister Marco Schank debattieren. Manche Teilnehmer, etwa der OGBL-Präsident, klagten damals, die Regierung habe selber „kaum Vorschläge“ gemacht. Vertretern aus NGOs dagegen ging der Einfluss von Ministerialbeamten zu weit und sie verziehen es der CSV-LSAP-Regierung nur schwer, dass sie über den zweiten Aktionsplan am Ende „alleine“ entschied.

Weil diesmal mehr auf dem Spiel steht als 2011, dürfte die jetzige Regierung eigentlich noch weniger als ihre Vorgängerin umhinkommen, den nächsten Aktionsplan „alleine“ zu beschließen. Andererseits könnte sie es für angebracht halten, sich für einschneidendere Maßnahmen eine Legitimation zu holen. Denn werden die Maßnahmen schon bis Jahresende beschlossen, wie das geplant ist, könnten sie 2018 auf das Wahlergebnis durchschlagen. Gut möglich, dass die Regierung die Empfehlung aufgreift, die der Nachhaltigkeitsrat nach der Übung vom Montag unterbreiten zu wollen ankündigt: Neben den Reduktionszielen solle ein „zweiter Pfeiler“ eingerichtet werden, ein „Dialog in der Gesellschaft“. Der könnte auch zum „Monitoring“ der Klimaziele dienen. So dass es demnächst noch mehr Systemtheorie-Seminare geben könnte.

Peter Feist
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