Jeremy Rifkins dritte Industrielle Revolution und die Zukunft des Arbeitsrechts

Tagelöhner 3.0

d'Lëtzebuerger Land vom 02.12.2016

Vor 14 Tagen stellte die Regierung den vom Staat und der Handelskammer bei dem US-amerikanischen Publizisten Jeremy Rifkin in Auftrag gegebenen Bericht über die dritte Industrielle Revolution vor (d’Land, 18.11.2016). Am unverbindlichsten ist diese Studie dort, wo die größten und am härtesten umkämpften Veränderungen zu erwarten sind, im Arbeitsverhältnis und im Arbeitsrecht. Denn im Mittelpunkt dieser dritten Industriellen Revolution steht die „Industrie 4.0“ genannte Absicht, den gesamten Kreislauf des Kapitals von der Investition über die Produktion bis zur Konsum­tion auf Distanz zu kontrollieren und numerisch zu steuern. Was zu einem weiteren, weitreichenden Flexibilisierungsschub im Arbeitsverhältnis führen kann.

Von 405 600 Erwerbstätigen vergangenes Jahr waren laut dem vorigen Monat vom Statec veröffentlichten Rapport travail et cohésion sociale 380 800 oder 94 Prozent lohnabhängig. Das bedeutet, dass fast die gesamte berufstätige Bevölkerung einen Arbeitsvertrag unterzeichnet hat, der ihre Rechte und Pflichten festhält. Artikel 121-4 des Arbeitsgesetzbuchs schreibt 13 Abmachungen vor, die in jedem Arbeitsvertrag festgehalten werden müssen. Der von der dritten Industriellen Revolution ermöglichte Flexibilisierungsschub kann durch den gezielten Einsatz neuer technischer Mittel zur Abschaffung der wichtigsten dieser 13 Rechte und Pflichten führen. Denn „service on demand is rising and may lead to a decrease in permanent employment contracts while self-employment and project-specific flexible and temporary recruitment could become more common“, so das von der Regierung gutgeheißene Thematic summary des Berichts (S. 127).

Die dritte Abmachung, über den Arbeitsort, könnte hinfällig werden, wenn die Beschäftigten als digitale Nomaden mit Handy und Laptop zu Hause, im Auto oder in der Espressobar arbeiten und ihr Betrieb sich in der Cloud auflöst. Die fünfte und die sechste Abmachung, über die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit sowie die normale Arbeitszeit, können gegenstandlos werden, wenn die Beschäftigten mittels Handy und GPS rund um die Uhr, auch in der Freizeit, im Krankenurlaub und in den Ferien, erreichbar sind und reagieren müssen. Die siebte Abmachung, über den Grundlohn und die Lohnzusätze, sowie der gesetzliche Mindestlohn würden ausgehöhlt, wenn die Beschäftigten projektbezogen bezahlt werden und so nicht mehr über ein sicheres und regelmäßiges Einkommen verfügen. Auch die achte Abmachung, über den bezahlten Urlaub, wird hinfällig, wenn das Gros der Beschäftigten nur noch befristet für spezifische Projekte verpflichtet wird.

Der Arbeitsvertrag läuft folglich Gefahr, in solchem Maß ausgehöhlt zu werden, dass er nur für eine Minderheit der Erwerbstätigen erhalten bleibt, und mit ihm auch Formen des Kollektivvertragswesens und der betrieblichen Mitbestimmung. Das derzeitige Normalarbeitsverhältnis, unter das laut Rapport travail et cohésion sociale drei Viertel der Erwerbstätigen – ohne Grenzpendler – fallen, könnte zur Ausnahme, das atypische Arbeitsverhältnis zur Regel werden.

Die extreme Flexibilisierung und weitgehende Auflösung des Lohnarbeitsverhältnisses bedeutete auch das Ende der Arbeitslosenversicherung, weil immer mehr Leute sie wie Intermittents du spectacle beanspruchen müssten und deshalb immer weniger sie finanzieren könnten. Aber auch die allgemeine Krankenversicherung würde zu einer schönen Erinnerung an das 20. Jahrhundert; die Rentenversicherung stieße tatsächlich an die immer wieder prophezeite Rentenmauer. Die Sozialversicherung als universelle staatliche Zwangsversicherung landete dort, wo manche sie schon seit langem haben wollen: bei einer gewerblichen Privatversicherung für eine kaufkräftige Minderheit.

Denn wenn die letzte Glasfaserleitung verlegt und das letzte Windrad errichtet ist, „a transfer of jobs into the social sector is likely to happen, including health and care, education, cultural activity and arts, environmental protection, sports and entertainment et cetera. These sectors require human-to-human engagement and social capital which cannot be robotized“. So bemüht sich der Bericht, die Zukunft der Arbeit positiv umzuformulieren (S. 127).

Die 80 oder 90 Prozent der Erwerbstätigen, die dann nicht in der Pflege, Erziehung und Unterhaltung arbeiten, werden auf die Sharing economy vertröstet: „A hybrid economy has already emerged, partly made up of a capitalist market and partly a sharing economy on the collaborative commons“ (S. 128). Aber Sharing economy scheint ein modischer Name für den Niedriglohnsektor zu sein: „As sharing activities often consist of micro transactions with limited turnover, they may increase inequality as well as stimulate new economic opportunities. The outsourcing of work to an undefined public (crowdsourcing) causes competition between workers on a global level“ (S. 128).

Zwar verzichtet die ohne Gewerkschaftsvertreter erstellte Studie nicht auf den einen oder anderen frommen Wunsch wie: „To strengthen social cohesion and reduce inequalities, realized gains from TIR should be distributed in a fair manner and benefit the society as a whole“ (S. 129). Doch Autoren wie Thomas Piketty rechnen vor, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede schon heute so groß sind wie seit 100 Jahren nicht mehr. Zudem rät die Studie, die dritte Industrielle Revolution werde „very capital intensive, the split between capital and labour taxation would need to be reviewed“ (S. 129), womit eine weitere Senkung der Kapitalbesteuerung gemeint sein dürfte.

Um über die Runden zu kommen, sollen die zu Selbstständigen und Scheinselbstständigen gewordenen Working poor Verzicht lernen und zur ökologischen verklärten Tauschwirtschaft zurückkehren, ihre Kartoffeln selbst anbauen, ihre Kleider selbst nähen und gegen die Möhren und Computerspiele des Nachbars tauschen. In Heimarbeit sollen Eltern und Kinder wieder Hausrat herstellen, statt am Webstuhl vielleicht am 3D-Drucker, und damit hausieren gehen wie einst die Dëppegéisser, Klautercher, Buuschtebënner und Hierdercheskréimer. Daneben bietet sich ein breiter Fächer alter und neuer Dienstbotenberufe an, um einer vom Verzichtsdenken unberührten Oberschicht das Einkaufen, das Kofferpacken und das Gassi Gehen mit dem Hund abzunehmen. Nur dass die Dienstboten nicht mehr über den Kënnerchesmaart, sondern als Stundenmädchen über Internetplattformen vermittelt werden.

Denn der Flexibilisierungsschub, den die Rifkin-Studie der Regierung mit allerlei Neologismen zu einer ökologischen Idylle zu verklären versucht, ist weniger eine ferne Zukunft als eine nicht allzu ferne Vergangenheit. Die flexible Sharing economy erinnert an „des journaliers, anciens garçons et filles de ferme mariés, liés aux paysans plus fortunés par une collaboration faite de traditionnels services réciproques: le journalier travaille chez le paysan, à la journée ou à la tâche ». (Albert Calmes, Naissance et débuts du grand-duché 1814-1830, Luxemburg, 1971, S. 284)

Das Gegenstück zu seiner Meistersinger-Idylle der Sharing economy erwähnt der Bericht nur vollständigkeitshalber: „While many traditional industries suffered, the zero marginal cost phenomenon also gave rise to a spate of new entrepreneurial enterprises including Google, Facebook, Twitter, and YouTube, and thousands of other Internet companies, who reaped profits by creating new applications and establishing the networks that allow the Sharing Economy to flourish“ (S. 123).

Darüber, dass die dritte Industrielle Revolution von einigen milliardenschweren US-Monopolen beherrscht wird, tröstet der Bericht mit dem Versprechen hinweg: „The Internet of Things platform is emerging, allowing millions – and soon hundreds of millions – of prosumers to make and share their own energy, share vehicles, share homes, and share an increasing array of 3D printed products at low to near zero marginal cost“ (S. 123).

Aber der Bericht lässt sicherheitshalber die Frage offen, wieso die Besitzer der Produktionsmittel plötzlich darauf verzichten wollen, die gewaltigen Produktivitätsgewinne einzukassieren, die durch gegen null tendierende Grenzkosten entstehen. Immerhin wurde die Studie von der Handelskammer mitfinanziert, die nicht müde wird vorzurechnen, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht erlaube, Produktivitätsgewinne zu teilen.

Der zuerst als ideologische Legitimation gedachte Bericht will vom „Luxemburger Modell“ abkehren, in dem das Arbeitsverhältnis Produkt eines Kompromisses zwischen Unternehmern und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten ist, und behauptet, dass es nun blind von technischen Sachzwängen durchgesetzt wird. Dazu bringt er den neuerdings schon in den Schulen beschworenen Unternehmergeist zu seiner Vollendung: „To foster Sharing Economy entrepreneurship, public authorities could systematically provide an individual VAT number to each citizen or resident, or an entry into the Trade and Companies Register, acknowledging de facto everyone as a social entrepreneur and prosumer“ (S. 130). So wörtlich nahm noch niemand den liberalen Homo œconomicus: Statt einer Sozialversicherungsnummer erhalten alle Neugeborenen eine TVA-Nummer und werden nicht ins Geburtenregister eingetragen, sondern ins Handelsregister.

Romain Hilgert
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