Was auf dem riesigen Touchscreen zu sehen ist, könnte man für die Darstellung der ausgeklügelten Alarmanlage eines Hochsicherheitsbetriebs halten, die Hightech-Räuber studieren müssen, ehe sie dort einzudringen versuchen können. Oder für das Schaubild eines komplexen Produktionsprozesses mit Material-, Energie- und Informationsflüssen. Das Besondere an dem Diagramm auf dem über einen Quadratmeter großen Schirm: Zoomt man in das Bild hinein, wird es komplexer. Dann tauchen in dem Netzwerk immer mehr Blöcke auf. Und offenbar haben sie alle irgendwie miteinander zu tun.
Das Bild mit Alarmanlagen und Produktionsflüssen zu vergleichen, ist gar nicht mal so falsch. In Wirklichkeit sind hier Vorgänge auf Zellniveau zu sehen: Das Zusammenwirken von Genen, die ein- oder ausgeschaltet werden. Die Produktion von Proteinen, die durch genetische Informationen gesteuert wird. Die „Energieversorgung“ von Zellen, die so genannte Mitochondrien besorgen. Der Fluss des Minerals Kalzium, der für ein bestimmtes Gleichgewicht der Zellvorgänge zuständig ist. Aber auch Entzündungsreaktionen, die ausgelöst werden, wenn sich eine störende Wirkung in den Zellen bemerkbar macht. Und jene Prozesse, die beschädigte Zellen entsorgen.
Nicht zu vergessen die Produktion des Neurotransmitters Dopamin: Wodurch sie beeinflusst wird, ist ebenfalls eine der Fragen, die das komplizierte Diagramm erläutern helfen soll. Gehen Nervenzellen, die Dopamin enthalten, in einem bestimmten Abschnitt des menschlichen Hirns verloren, der den geheimnisvoll klingenden Namen Substantia nigra pars compacta trägt, ist das ein Sympton für die Parkinsonsche Krankheit.
Und um die geht es in dem Schaubild, das immer komplexer wird, je tiefer man in es eindringt. Zwei Jahre hat ein Forscherteam des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) um den Computerwissenschaftler Marek Ostaszewski daran gearbeitet, sämtliche Informationen zusammenzutragen, die über Parkinson bisher weltweit verfügbar sind. 429 Artikel aus Wissenschaftszeitschriften hat das Team gesichtet und 254 Zellmechanismen ausgewertet, die in öffentlich zugänglichen Forschungsdatenbanken beschrieben sind. So entstand die Parkinson Disease Map. Gegenwärtig enthält sie 2 285 Elemente und beschreibt 989 Zusammenhänge zwischen den Elementen.
„Gegenwärtig“, weil die PD Map, wie Projektleiter Ostaszewski sie abkürzt, von Anfang an als Work in progress gedacht war. Das vor vier Jahren an derUniversität Luxemburg gegründete LCSB hat sich auf die Forschung an Parkinson spezialisiert. „Hausintern“, erklärt Ostaszewski, „benötigen wir einen solchen Atlas sowieso.“ Die PD Map soll aber nicht auf das LCSB in Belval beschränkt bleiben. Sie ist öffentlich zugänglich und steht damit sämtlichen Parkinson-Forschern zur Verfügung. Am LCSB wird gehofft, dass möglichst viele beitragen werden, den in dem Atlas gesammelten Wissensschatz zu vergrößern – und ihn zu verwalten. Ostaszewski vergleicht es mit der Entwicklung und Pflege von Open source-Computersoftware durch einen „harten Kern“ passionierter Informatiker. „Mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Zusammenhänge hier viel, viel komplexer sind als in einem IT-Projekt.“
Allerdings ist der Internet-basierte Atlas mehr als nur eine Art „Parkinson-Wikipedia“, die beim Mausklick auf eines der Elemente oder seine Verbindungen dem Nutzer der Map alle jeweils relevanten Wissenschaftsartikel anzeigt und es erlaubt, in Datenbanken nachzuschlagen. Gemeinsam mit Partnern aus dem Systems Biology Institute in Tokio haben die LCSB-Forscher aus Belval ein interaktives Werkzeug geschaffen, mit dem jeder Nutzer eigene Netzwerke innerhalb der Map bilden kann. Alles an der Map sei öffentlich, betont Os-taszweski. Nicht nur die darin enthaltenen Daten, sondern auch die kybernetischen Mechanismen, die im Hintergrund arbeiten. Damit könne ein Nutzer eigene Analysen mit dem Atlas starten. Was sich dabei ergibt, kann per E-Mail sofort an die Kuratoren der PD Map weitergegeben werden, die dann entscheiden, wie solche Resultate in den Atlas aufzunehmen wären. Noch ist das LCSB der Kurator – doch dabei soll es ja nicht bleiben.
Zumal die Algorithmen, die hinter dem Atlas stecken, es nicht nur erlauben, statisch zu zeigen, was beispielsweise nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft passiert, wenn ein bestimmtes Gen ein- oder ausgeschaltet wird; welche Proteine dann wo produziert werden, wie Stoffwechselvorgänge in den Zellen dadurch beeinflusst werden und so weiter. Die Map kann auch darstellen, wie solche Prozesse in der Zeit verlaufen – wenngleich diese „kinetische“ Funktion zurzeit noch nicht aktiv ist.
Die Entwiclung und Veröffentlichung des Atlas soll selbstverständlich auch den Nebeneffekt haben, das LCSB in der internationalen Wissenschaftler-Gemeinchaft bekannter zu machen und damit auch Luxemburg als Biotech-Standort. Wie wichtig ein Fundus ist, der einen Überblick über das erlaubt, was man zu Parkinson weiß, zeigt sich aber schon daran, dass man Entscheidendes noch nicht weiß: Was genau die Krankheit auslöst, die neben Alzheimer und der Multiplen Sklerose zu den häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen im Alter zählt, ist nach wie vor unbekannt. Ihre Symptome, die sich im fortschreitenden Verlust motorischer Fähigkeiten äußern und von Schwierigkeiten beim Sprechen über Zittern und Problemen beim Greifen und beim Gehen bis hin zu einem nachlassenden Geruchssinn reichen, können zwar durch Dopamin-Gaben und elek-trische Tiefenstimulierungen des Hirns gemildert werden. An ihren Ursachen behandelt werden aber kann die Parkinson Disease noch nicht, weil keiner die genauen Ursachen kennt. Es gebe auch Hypothesen, berichtet Ostaszewski, denen zufolge man Parkinson als eine Kombination mehrerer Erkrankungen verstehen müsse.
Kein Wunder, dass das LCSB den Work in progress Parkinson-Atlas nicht nur um immer neue molekularbiologische Zusammenhänge erweitern möchte, sondern um ganze Dimensionen: Klinische Erkenntnisse hinzuzufügen und mit der Beschreibung von Zellprozessen zu vernetzen, wäre sinnvoll, sagt Ostaszewski. Und dann zeigt er auf eine schematische Darstellung von Hirnregionen und meint, neurologische Vorgänge einzubeziehen, wäre natürlich „eine ganz tolle Sache“. Aber natürlich sei die Hirnforschung ähnlich komplex wie die Zellforschung und sozusagen eine Welt für sich.
Wie die internationale Parkinson-Forschergemeinschaft auf das Angebot PD Map reagiert, will das LCSB im Dezember testen, wenn in Genf der Parkinson-Weltkongress stattfindet. Dann sind für das Belvaler Forschungszentrum vier Stunden für Vorträge und Workshops zur Map reserviert. Bisher, berichtet Ostaszewski, habe er nur eine einzige E-Mail erhalten – was jedoch nicht überraschend sei: „Über Parkinson wird sehr viel geforscht und ständig publiziert.“ Und wenngleich in der Forscher-Community im Grunde Einigkeit darüber herrsche, dass dadurch der Kenntnisstand nicht unbedingt übersichtlicher wird, erfordere die Mitarbeit an der Map sozusagen die Entscheidung, wenigstens von Zeit zu Zeit den Ausbruch aus der gewohnten Art der Wissensproduktion wagen zu wollen.