In seinem Essai Der kreative Mensch (Residenz Verlag, 2016) beschreibt Wolfgang Ullrich, wie sich die Wahrnehmung der schöpferischen Gestaltungskraft über die Zeit verändert und sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte das „Kreativitätsdispositiv“ herausgebildet hat. Die demokratische Auffassung, dass nicht nur in ein paar Genies, sondern in jedem Menschen kreatives Potenzial schlummert, das aktiviert werden muss, damit das Leben erfüllt ist. „Seit einigen Jahrzehnten ist die Kreativität somit zur Norm geworden. Jeder, der auf sich hält, es auf Anerkennung, gar auf eine Vorbildrolle abgesehen hat, achtet darauf, ihr zu genügen, sie bestenfalls zu übertreffen und sich als noch kreativer als andere zu erweisen“, schreibt Ullrich. Dieses Kreativitätsdispositiv werde durch die liberale Marktwirtschaft gefördert, in der Wettbewerb, Leistung und Gewinn zählen. Denn wer die bessere Idee hat, hat den Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Kreativität ist damit ein Rohstoff wie Erdöl. Und Kreativität wird von den Arbeitnehmern ebenso eingefordert wie Flexibilität und ständige Verfügbarkeit und sie dient der Wertschöpfung. Unter diesen Bedingungen ist ein guter Künstler ein solcher, dessen Schaffen andere dazu inspiriert, kreativ zu sein, nicht jemand, dessen Werk so gut ist, dass es ein endgültiges Ausrufezeichen setzt. Ein guter Künstler ist also vielmehr eine Muse, die Inspiration für andere liefert. Ganz nebenbei wird er damit zum Dienstleister degradiert.
Als Staatssekretärin Francine Closener (LSAP) am Dienstag die Gründung eines Luxinnovation-Clusters für die Kreativindustrie bekanntgab, saß neben ihr der leibhaftige Beleg dafür, dass Kreativität zur Norm geworden ist: ein Beamter mit Vollbart und Hipster-Brille, der signalisierte, dass das Ministerium die äußerlichen Codes der Kreativen verstanden und verinnerlicht hat. Closener lancierte eine statistische Offensive. Die Luxemburger Kreativindustrie umfasse 2 200 Betriebe und beschäftige 6 300 Arbeitnehmer. Ihr Umsatz belaufe sich auf eine Milliarde Euro jährlich, sie trage etwas mehr als sechs Prozent zur nationalen Wertschöpfung bei. Closener sprach von Potenzial und Innovation und davon, dass der wirtschaftlichen Bedeutung der Kreativindustrie Rechnung getragen werden soll.
Um mit derartig beeindruckenden Zahlen aufwarten zu können, ist der Begriff der Kreativindustrie weit gefasst. Er reicht von der bildenden Kunst und Theater über Film und Literatur, Presse, Musik, Architektur hin zu kreativen Dienstleistungen wie Mode und Werbung und jede Art von Design. Man wolle den Kreativen „unternehmerische Reflexe beibringen“, so Closener, ihnen zu einer gesteigerten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und gegenüber den Verwaltungen verhelfen, sie untereinander vernetzen und sie in Kontakt mit „traditionellen“ Firmen bringen. „Wir brauchen die Kreativindustrie für den Standort“, sagte die Staatssekretärin, sie solle helfen, das „Image aufzupäppeln“.
Luxinnovation betreut auf Geheiß des Wirtschaftsministeriums bisher sieben Cluster: das der Autobauteile, das für Biotechnologie, eines für Umwelttechnologien, ein anderes für Informationstechnologien, eines für Materialen, eines für die Weltraumbranche und eines für Holz, in denen jeweils die in diesen Bereichen tätigen Firmen Mitglied sind. Seit Dienstag also gibt es ein achtes Cluster für die Kreativindustrie. Wie hoch die Mitgliederbeiträge sein sollen, weiß noch niemand, auch nicht, wer Mitglied ist oder wird. Aber innerhalb der nächsten zwei Wochen soll ein Cluster-Manager eingestellt werden, dafür steht ein Budget von 1,5 Millionen Euro zur Verfügung und eines von 50 000 Euro für laufende Ausgaben.
Als prioritäre Aktionen soll der Cluster-Manager den Akteuren der Kreativindustrie helfen, sich im Verwaltungsdschungel zurechtzufinden, ihnen Beistand bei der Entscheidung leisten, ob sie ihre Kreativität als Kulturschaffende oder privatwirtschaftliche Unternehmer ausleben sollen, und ihnen sagen, welche Genehmigungen sie gegebenenfalls brauchen. Außerdem sollen der Manager und sein Cluster untersuchen, wie die Luxemburger Kreativität besser exportiert werden kann, an welchen Messen sich eine Teilnahme lohnt und Wirtschaftsmissionen im Zeichen der Kreativität ausarbeiten.
Allein an diesem Auftrag lässt sich erkennen, dass die Kreativindustrie ein völlig künstliches Konstrukt ist, wie unausgegoren das Projekt Kreativ-Cluster ist und wie wenig die Initiatoren im Wirtschaftsministerium von den verschiedenen „Unterbranchen“ und ihrer Funktionsweise verstehen. Denn er setzt voraus, dass sich Modelle der Förderung und Exporthilfe anderer Wirtschaftszweige auf die Kreativindustrie übertragen lassen. Die „richtige“ Industrie fördert das Ministerium beispielsweise, indem es alljährlich einen Stand auf der Hannover Industriemesse mietet. Dort verteilen Luxemburger Unternehmen Broschüren über ihre Produkte. Doch alleine mit Geld lässt sich der Zugang zu Kunstmessen nicht kaufen, bei Filmfestivals trifft eine Jury die Auswahl der Filme im Wettbewerb, und wenn jemand seine Mode in Paris zeigt, heißt das noch lange nicht, dass er im Programm der Fashion-Week steht. Mit ein wenig Glück könnte ein Cluster-Manager über das notwendige Wissen und die Kontakte für eine der Branchen der Kreativindustrie verfügen, aber für alle?
Vielleicht wird aber ohnehin zuerst ein Buchhalter oder ein Webdesigner gebraucht, denn die Workshop-Teilnehmer, die vor zwei Wochen im 1535 in Differdingen darüber abstimmten, was das Cluster tun soll, forderten mehrheitlich zu allererst die Erstellung einer Webseite, auf der alle Kreativen referenziert würden, damit jeder sehen kann, wen es alles gibt. Dieser Vorschlag erhielt 40 Stimmen bei der Schlussabstimmung. Am Workshop nahmen 51 Vertreter der Kreativindustrie teil, wobei die Vertreter der Institutionen mit zehn Beteiligten die größte Mannschaft stellten. Immerhin noch 16 Stimmen erhielt ein zweiter Themenblock, der im Sitzungsbericht wie folgt zusammengefasst wird: „Unique voice (Intermediate and expert for the government, insitutions and professional chambers): Bring all the actors of the creative world together as a super-federation, which takes steps when there are problems. The cluster meets regularly the governmental bodies to: Implementation of tax credits, Setup a fund, Defends interests in government reforms. Have regular follow-up meetings (with expert) sharing the state of the sector and especially anticipate the future and tendencies of the creative industry. A short, medium and long term vision.”
Das klingt nach einer Art Super-Gewerkschaft, die die Interessen der Kreativen verteidigen soll, auch gegenüber dem Staat; was überraschen kann, da die geplante Gewerkschaft vom Staat selbst organisiert und mitfinanziert wird. Das wirft auch Fragen über die Zuständigkeitsbereiche und Kompetenzen zwischen den Ministerien auf. Soll ein Luxinnovation-Branchen-Cluster, das vom Wirtschaftsministerium gefördert wird, sich mit Sozialfragen der Kulturschaffenden beschäftigen, die bisher eher in den Zuständigkeitsbereich des Kulturministeriums fielen, das vergangenes Jahr selbst via Kultur-Assisen einen Austausch mit seinem Wahlbezirk inszeniert hatte? Beim Kick-Off Event am Dienstagabend saß Kulturstaatssekretär Guy Arendt (DP) diskret im Publikum. Zu sagen hatte er bei dieser Wirtschaftsveranstaltung nichts.
Dass der Start des Kreativ-Clusters so chaotisch und konfus anmutet, ist auch seiner Entstehungsgeschichte geschuldet. Ursprünglich ist das Cluster die Idee des ehemaligen Luxinnovation-Angestellten und Designers Jan Glas, der zusammen mit Tania Brugnoni vom 1535 in Differdingen, Anna Loporcaro vom Mudam und Olivier Zephir vom Technoport ein erstes Konzeptpapier ausgearbeitet und dem Ministerium (d’Land, 20. Mai 2016) vorgestellt hatte. Offensichtlich gefiel es, denn Staatssekretärin Francine Closener wollte das neue Cluster unbedingt noch im Januar vorstellen, mit oder ohne Konzept, weshalb sich die Initiatoren mit der Veranstaltung des Workshops beeilen mussten, um den „Kreativen“ die Möglichkeit zum Mitreden zu geben.
Damit es so aussieht, als ob „etwas geschieht“, lancierte Francine Closener am Dienstag nicht nur das neue Cluster, sondern auch zwei Ausschreibungen, an denen sich die Kreativen beteiligen sollen. Erstens soll für die Nationbranding-Kampagne ein neuer Werbefilm gedreht werden und zweitens ein typisch Luxemburger Gebrauchsgegenstand erfunden werden. Die Ausschreibung beider Projekte verstärkt nur den Verdacht, wie wenig die Zuständigen mit den Realitäten der Branchen vertraut sind, die sie fördern wollen.
Die Filmemacher haben bis Mitte März Zeit, ein Szenario inklusive Storyboard für einen 30 Sekunden langen Animationsfilm – Oscar oblige – einzureichen, der bis zum 16. Oktober fertig sein soll. 6 000 Euro gibt es für die besten drei Projekte, 2 000 Euro für die viert- bis zehntklassierten. Ob eine Marketingfirma für so wenig Geld ein Filmkonzept vorlegen würde?
Was der Gebrauchsgegenstand sein soll, der über die „Design Challenge“ ermittelt wird, ist völlig offen, aber Francine Closener stellt sich etwas in der Art des Schweizer Taschenmessers vor, nur eben luxemburgisch. Die Designer haben bis Ende März Zeit, ihr Projekt einzureichen, das so ausgereift sein muss, dass ein Foto, eine 3-D-Simulation oder ein Prototyp angefertigt werden kann und es vor allem binnen zwei Monaten ab Auftragsvergabe lieferbar ist. Produziert werden kann auch im Ausland, denn der typisch luxemburgische Gebrauchsgegenstand soll nicht zu teuer in der Produktion sein. Die besten fünf Entwürfe werden mit jeweils 2 000 Euro prämiert und erhalten für die zweite Projektphase 1 000 Euro, um einen Prototypen anfertigen zu lassen. Der Gewinner tritt die Verkaufsrechte ab. Ob er oder sie dann über Lizenzgebühren an den Verkaufserlösen beteiligt wird, irgendeine Entschädigung dafür erhält, dass die Produktion überwacht wird, geht aus der Ausschreibung nicht hervor. Alles in allem setzt das sehr viel Arbeit binnen unrealistisch kurzer Fristen voraus; für einen lächerlich kleinen Geldbetrag. Präsident der Jury, die den Gewinner aussucht, ist Mars Di Bartolomeo, der eher als Parlamentspräsident denn als Design-Experte bekannt ist.
Das Publikum beim Kick-Off-Event am Dienstagabend im Tramsschapp entsprach einer Mischung aus Rotunden-Eröffnung und Fedil-Neujahrsempfang. Eberhard Schrempf, Direktor von Design Steiermark, der, mit Powerpoint und Promotionsfilmchen ausgerüstet, erklärte, wie sein „Kreativ-Cluster“ mit Schwerpunkt Design in Graz funktioniert, erntete Gähnen und Spott aus den Zuhörerreihen. Dann trat der niederländische Künstler und Innovateur Daan Roosegarde auf, der von Smogabzugshauben für Großstädte und selbstleuchtenden Fahrradwegen berichtete. Danach fühlten sich viele Teilnehmer sehr inspiriert. Vielleicht hat das Cluster damit einen Zweck bereits erfüllt.