Müsste man Lautlos, das Debüt der 19-jährigen Anouk Mahr, in einem Satz zusammenfassen, käme in etwa Folgendes heraus: Der Roman handelt von einem stummen, verstörten Mädchen, das aus der Beziehung zu einem blinden Pferd neuen Lebensmut schöpft. Diese Beschreibung weckt vermutlich nicht die besten Assoziationen, wird dem Text aber auch nicht gerecht. Lautlos passt in das klassische Schema der Jugendliteratur – auch wenn das Buch nicht explizit als solche gekennzeichnet ist –, ist allerdings zugleich mehr und weniger als die Mischung aus Hollywood-Schmonzette und Pferdegeschichte, die ein kursorischer Blick in den Klappentext erahnen lässt. Aufgesattelt und ausgeritten wird bei Mahr eher im Hintergrund, während der Fokus auf der psychologischen Entwicklung der Hauptfigur und Ich-Erzählerin liegt.
Lucinda Weynandt ist sechzehn und soeben mit ihren Eltern in eine neue Stadt gezogen, wo sie als externe Schülerin ein Internat besuchen wird. Der Ortswechsel soll der Teenagerin helfen, ihren Mutismus zu überwinden. Seit Jahren spricht sie nicht mehr und teilt sich allenfalls schriftlich oder in Gebärdensprache mit. Dahinter steckt, wie die Erzählerin bereits früh andeutet, ein traumatisches Erlebnis, über das sich die Familie ausschweigt und das deshalb weder Lucindas Therapeutin Dr. Hagenbach noch ihrer persönlicher Betreuerin Frederike bekannt ist. Mit viel Einfühlungsvermögen schildert der im Präsens erzählte Roman das Umfeld seiner Heldin und deren Innenleben. Die Außenwelt schein dem Mädchen feindlich gesonnen, was Anouk Mahr insbesondere mit einigen mantra-artig wiederholten Formeln und Sätzen sichtbar macht. Als Figur mag Lucinda stumm sein, als Erzählerin ist sie überaus kommunikativ.
Lautlos ist eine Adoleszenz-Erzählung und spielt demgemäß zu einem großen Teil in der Schule. Auch dieses Milieu wird von der Autorin detailliert beschrieben, mitsamt der komplexen Beziehungsverästelungen und der Hackordnung unter den Schülerinnen und Schülern. Irgendwann steht dann ein Ausflug auf einen nahegelegenen Gnadenhof an, auf dem sich Lucinda mit dem Besitzer und dessen Sohn anfreundet und fortan als Freiwillige arbeitet. Angetan hat es der Sechzehnjährigen neben dem kürzlich erblindeten Hengst Miracle auch der halbägyptische Junge Kairo. Die Namensgebung, die ansonsten recht souverän gehandhabt wird und einige verdeckte Hinweise bereithält – man achte auf die verschiedenen Spitznamen Lucindas –, ist hier nicht gerade subtil.
Obwohl die Handlung in der Folge nicht ohne ein paar melodramatische Wendungen auskommt, schlägt Anouk Mahr keine vollends sentimentale Route ein und beschränkt sich stattdessen wieder auf die Darstellung der Psyche von Teens. Aus unterschiedlichen Gründen treten sowohl Miracle wie auch Kairo in den Hintergrund, während eine Nebenfigur, eine Schulkameradin Lucindas, im letzten Drittel des Romans zur fast ebenbürtigen Protagonistin neben der Ich-Erzählerin wird. Die eher abweisende Schülerin, die Lucinda zusammen mit den anderen Mädchen bislang gemieden hat, entpuppt sich als Leidensgenossin, mit der die Heldin einen gemeinsamen Weg gehen kann. Die Wendung an sich ist gelungen, allerdings führt Lautlos gleichzeitig eine Erzählstimme in der dritten Person ein, da Lucinda allein nicht mehr alles Relevante berichten kann. Elegant ist diese Lösung nicht, und auch die Entscheidung für das Präsens führt hier zu einigen holprigen Stellen.
Insgesamt überzeugt der Roman mit seinen jugendlichen Charakteren wesentlich mehr als mit seinen erwachsenen, deren Glaubwürdigkeit gelegentlich zu wünschen übrig lässt. Dass Lucindas Eltern eine entscheidende Tatsache aus der Vergangenheit ihrer Tochter vor der Therapeutin verheimlichen, erscheint im Rückblick verantwortungslos und ungenügend motiviert. Vielleicht gehört es aber auch zu den Gepflogenheiten der Jugendliteratur, dass Erwachsene sich darin irgendwie rätselhaft und unschlüssig benehmen. Von der Aufmachung her unterscheidet sich Anouk Mahrs Roman, wie bereits erwähnt, nicht von anderen rezenten Veröffentlichungen der Éditions Guy Binsfeld. Sein Publikum dürfte aber ein deutlich jüngeres als das von Helminger, Hoscheit oder Hamen sein. Lautlos bietet solide, wenn auch nicht überragende Unterhaltung und deckt mit Familie, Freundschaft und psychischer Entwicklung jenen Themenbereich ab, den man von einem Jugendroman erwartet. In einer Literaturlandschaft, in der kaum jemand für Leserinnen und Leser zwischen zwölf und achtzehn schreibt, ist das schon ein Alleinstellungsmerkmal. Vielleicht gehen Anouk Mahrs literarische Ambitionen, wie einst die von Claudine Muno, aber zukünftig auch in eine andere Richtung.