Gedichte kann man nur in seiner Muttersprache schreiben. An dieser Losung Paul Celans reiben sich im Nachwort von In Wirklichkeit/En realité Pierre Joris und Jean Portante. Beide haben ihre Muttersprache nur als gesprochene Sprache erlernt, beide haben sich für eine Fremdsprache als Literatursprache entschieden, lassen jedoch auch noch andere in ihr Schreiben miteinfließen. In ihrem Plädoyer für eine mehrsprachige Poesie kommen sie auch auf das unheimliche Gefühl zu sprechen, das sie befällt, wenn sie ihre Lyrik in Übersetzung hören oder gar selbst vortragen sollen. „Es kam mir vor, als läse ich die nicht besonders guten und ziemlich plumpen Verse von jemand anderem“, erklärt Joris, während Portante feststellt, „dass [s]eine Arbeiten in der Übersetzung auf ihren Inhalt reduziert werden und so nicht mehr als Schreiben funktionieren“.
Das Vorhaben dieses Buchs erscheint somit in mehrfacher Hinsicht frevelhaft: Jean Portantes Gedichte, die viel mit dem Gleichklang französischer und italienischer Wörter spielen, stehen neben ihren deutschsprachigen Übertragungen. Ähnlich wie die Einfügung des Nachworts kann man den Abdruck der Originale (erstmals 2008 bei Phi erschienen) als Geste des Selbstbewusstseins oder der Demut verstehen. Sind die Übersetzungen von Michael Speier und Brigida Bezzenberger trotz aller Vorbehalte so gelungen, dass sie es mit den Ausgangstexten aufnehmen können? Oder werden uns Letztere mitgereicht, weil an Robert Frosts Sentenz „Poetry is what is lost in translation“ am Ende nicht zu rütteln ist? Die Präsentationsform lädt jedenfalls zum Vergleich ein.
In Wirklichkeit/En realité erschafft mit stark reduzierten Mitteln Gedichte, die wie Teil eines überzeitlichen Naturschauspiels wirken, das sich Außenstehenden nicht immer erschließt. Dem Sprecher steht in der Regel ein weibliches „Du“ gegenüber, das in den abstrakten Landschaften der Texte allerdings nie zur klassischen Dichtergeliebten ausgeformt wird. Der Wortschatz ist auf ein überschaubares Maß begrenzt und kreist um Ausdrücke, die zwischen Naturlyrik und Naturwissenschaft oszillieren. Wichtigstes Gestaltungsprinzip ist der Rhythmus: Portantes zyklische Strukturen richten sich nach den Mondphasen. Die Sprache nimmt ab und wieder zu. Auf kurze Verse folgen längere Strophen ohne Interpunktion und umgekehrt.
Dazwischen finden sich fast immer der Einschub „je veux dire“ – von Speier und Bezzenberger mit „will sagen“ übersetzt –, der die einzelnen Segmente verbindet und Präzisierungen ankündigt, die sich gerne als Neuansätze entpuppen. In seinem Ringen mit der Sprache, in seinem Kampf um den passenden Ausdruck weist der Dichter zurück, stellt richtig und formuliert um. Ob er am Ende die Dinge so beschreibt, wie sie „in Wirklichkeit“ sind, ist Nebensache. Die Wörter mögen stocken, besitzen aber ihre eigene Wahrheit. Dieser spüren auch die beiden Übersetzer in ihrer Suche nach dem richtigen Wort nach. Die gedrungene Form von Jean Portantes Texten und ihre Tendenz zum Aperçu machen es ihnen nicht leicht (dass das Italienische nicht mehr durchscheint, ist geschenkt).
Aus „ce qui ne revient plus n’est pas / forcément la face cachée de ce qui manque déjà“ wird „was nicht mehr wiederkehrt ist nicht schon / unbedingt die verborgene seite dessen was fehlt“. Die Wortstellung auf Deutsch ist unnatürlich und von der Eleganz des Originals weit entfernt. Gelegentlich fehlt der Übertragung auch die Konsequenz: Wo Portante Sätze leicht variiert, bleiben sie bei Speier und Bezzenberger gleich, wo er im Französischen den gleichen Ausdruck wiederholt, entscheiden sie sich im Deutschen für unterschiedliche. In guten Momenten allerdings – und davon gibt es genug – gelingt dem Übersetzer-Duo mehr als die bloße Reproduktion des Inhalts. Dann treffen sie den Ton und Sprachduktus des Originals mit ebenso mühelosen Konstruktionen. So heißt es in der deutschen Version zum Beispiel: „Fragte man mich was ich von der rundheit / der erde halte würde ich wahrscheinlich wieder / den spion von der eingangstür zu rate ziehen“. Das steht dem französischen Pendant in nichts nach: „Si l’on me demandait ce que je pense de la rondeur / du monde j’invoquerais sans doute à nouveau / l’espion de la porte d’entrée“. Das Unbehagen an der Übersetzung, das die beiden Luxemburger Autoren im Nachwort thematisieren, überträgt sich bei In Wirklichkeit/En realité nur bedingt auf die Leserinnen und Leser.