Es gibt hierzulande beliebte Gewohnheiten, alle gesellschaftlichen und politischen Phänomene zu nationalen Eigenarten zu erklären, ohne sich überhaupt um Vergleiche mit anderen Ländern zu bemühen, und, als Steigerung davon, gleich auch noch internationale Rekorde daraus zu machen.
Ein regelmäßig wiederkehrendes Objekt dieser Form von Mystifizierung ist der Sozialstaat, der von den unterschiedlichsten Regierungen kurzerhand als der großzügigste überhaupt dargestellt wird. Was wiederum ebenso regelmäßig Befürchtungen weckt, dass er eine ebenso rekordverdächtige Belastung der Volkswirtschaft darstellt, so dass der Produktionsstandort im Vergleich zu anderen Staaten nicht wettbewerbsfähig sein kann. Das übliche Problem dieser Diskussionen ist, dass sie auf quantifizierbare internationale Vergleiche verzichten.
Um so interessanter ist deshalb der soeben vom statistische Amt der Europäischen Union Eurostat und der Generaldirektion "Beschäftigung und Soziales" der Europäischen Kommission veröffentlichte Bericht Beschreibung der sozialen Lage in Europa 2000. Denn an Hand der jeweils letzten EU-weit verfügbaren Daten, meist aus den Jahren 1995 bis 1998, liefert er teilweise überraschende Antworten auf manche liebgewonnene Vorurteile:
"Die Luxemburger werden ein Volk von Greisen"
Nach der vorherrschenden Meinung steigt der Altersdurchschnitt der Luxemburger Gesellschaft schneller als derjenige anderer Länder. Dadurch belastet ein Heer von Rentnern die Erwerbstätigen und macht den Sozialstaat unbezahlbar. Der Standort verliere an Wettbewerbsfähigkeit, weil die Nachbarn im Vergleich zu den greisen und verschlafenen Luxemburgern jünger und dynamischer sind.
Doch laut Beschreibung der sozialen Lage in Europa 2000 scheint das Gegenteil der Fall. Der Anteil der mehr als 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung macht in Luxemburg 14,3 Prozent aus, gegenüber einem EU-Durchschnitt von 15,9 Prozent. Und das Verhältnis der über 65-Jährigen zu den Erwerbstätigen liegt mit 21 Prozent in Luxemburg deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 24 Prozent. Es ist auch niedriger als in den drei Nachbarstaaten.
Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll dieses Verhältnis auch langsamer, um zwei Prozent, wachsen als im EU-Durchschnitt mit drei Prozent. Obwohl der Bericht voraussagt, dass die kleine Bevölkerungsgruppe der mehr als 80-Jährigen innerhalb der nächsten zehn Jahre um die Hälfte zunehmen wird. Die Erklärung für die vergleichsweise mäßige Entwicklung des im Statistikerjargon ziemlich unfreundlich "Alterslastquote" genannten Verhältnisses ist sicher die große Zahl neuer Arbeitsplätze, die in Luxemburg entstehen.
"Immer weniger Luxemburger arbeiten"
Gleichzeitig müssen laut einer weiteren festen Überzeugung die Erwerbsfähigen in Luxemburg eine der größten Zahlen an Früh- und Invalidenrentnern und sonstwie Beschäftigungslosen unterhalten. Dadurch würden die Renten- und Krankenkassen unbezahlbar. Folglich müssten Invalidenrenten und Vorruhestandsregelungen eingeschränkt werden, die Entwicklung des garantierten Mindesteinkommens gebremst werden, soll die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts nicht verloren gehen.
Ausgangspunkt dieser Betrachtungen sind meist die übliche Unterscheidung der Erwerbstätigen nach Nationalität und die Berücksichtigung der Erwerbsquote. Eurostat und Kommission halten sich dagegen lieber an die Beschäftigungsquote, den Anteil der real Beschäftigten an der erwerbsfähigen Bevölkerung, so dass die hohe Arbeitslosigkeit in den anderen EU-Staaten mit in Betracht gezogen wird. Danach aber liegt Luxemburg mit 60,2 Prozent Beschäftigten unter den 15- bis 64-Jährigen ziemlich genau im EU-Durschnitt von 61 Prozent, ein Wettbewerbsnachteil scheint also nicht feststellbar. Unter den Nachbarländern liegt der Anteil nur in Deutschland höher, Belgien und Frankreich schneiden schlechter ab. Die Erklärung dafür ist die große Zahl von Arbeitsplätzen im Vergleich zur Bevölkerung und die weit höhere Arbeitslosigkeit in den anderen EU-Staaten. Der Bericht bescheinigt Luxemburg "ein beträchtliches Beschäftigungswachstum" seit Mitte der Neunzigerjahre trotz "beträchtlicher Rückgänge" der Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe, welche durch die Dienstleistungen mehr als ausgeglichen wurden.
"Luxemburg gibt zuviel Geld für Sozialschutz aus"
Der Sozialstaat, so ist immer wieder zu hören, sei großzügiger und teurer als in anderen Staaten. Dadurch werde er unbezahlbar und der Produktionsstandort büße seine Wettbewerbsfähigkeit ein. Eine Senkung der Sozialausgaben müsse dringend die Staatskasse und die Wirtschaft entlasten. Es könne doch nicht sein, dass ein Viertel des nationalen Einkommens für den Sozialschutz ausgegeben werde.
Um so überraschender scheint, dass der Anteil der Ausgaben für den Sozialschutz am Bruttoinlandsprodukt in Luxemburg bei 26, 2 Prozent und damit unter dem EU-Durchschnitt von 28,7 Prozent liegt. In den drei Nachbarländern werden sogar über 30 Prozent für den Sozialschutz ausgegeben. Die Erklärung dafür dürfte das hohe Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner und die geringeren durch Arbeitslosigkeit verursachten Sozialausgaben sein.
Der Anteil der Arbeitslosenentschädigung in Luxemburg macht laut Beschreibung der sozialen Lage in Europa 2000 nur 3,5 Prozent aller Sozialleistungen aus, der EU-Durchschnitt ist mit 8,4 Prozent aber mehr als doppelt so hoch, in Belgien macht er sogar 14,5 Prozent aus.
In Luxemburg sind die Sozialausgaben pro Einwohner zwar die höchsten in der EU und mehr als dreimal so hoch wie in Portugal. Aber gleichzeitig hat Luxemburg auch das höchste Bruttoinlandsprodukt. Die Angaben sind außerdem insofern irreführend, als die Sozialausgaben nur auf die Einwohner umgelegt werden, obwohl auch der hohe Anteil Grenzpendler Anrecht darauf hat, die Prokopfausgaben also in Wirklichkeit geringer sind.
"Die Renten ruinieren den Sozialstaat"
Kein Land gebe so viel für seine überzogenen Renten aus wie Luxemburg, ist immer wieder zu hören. Dadurch leide die Konkurrenzfähigkeit der hiesigen Unternehmen.
Nach Angaben der Beschreibung der sozialen Lage in Europa 2000 macht der Anteil der Alters- und Hinterbliebenenversorgung an den gesamten Sozialleistungen in Luxemburg aber nur 43,4 Prozent aus, weniger als der EU-Durchschnitt von 44,8 Prozent. Nach Einführung der Pflegeversicherung, die in diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt ist, dürfte der Anteil sogar noch zurückgegangen sein.
Dafür sind aber die Sozialleistungen zugunsten von Familien und Kindern in Luxemburg mit 13,2 Prozent die höchsten in der Union, wo der Durchschnitt bei 7,9 Prozent liegt - ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Angst vor 700 00 Einwohnern noch nicht umging und statt dessen das Aussterben der Luxemburger befürchtet wurde.
"Das Gesundheitswesen ist unbezahlbar geworden"
Die medizinische Versorgung sei im Vergleich zu anderen Staaten aufgebläht und überteuert. Eine Erhöhung der Effizienz und Sparmaßnahmen seien unverzichtbar, heißt es anlässlich jeder Krankenkassen-Quadripartite.
Der internationale Vergleich aber zeigt, dass die Gesundheitsausgaben in Luxemburg mit 7,1 Prozent des Bruttosozialprodukts zu den niedrigsten in der Europäischen Union gehören. Nur in Großbritannien und Irland sind sie mit 6,7 beziehungsweise sieben Prozent niedriger - aber auch wesentlich schlechter und somit keineswegs effizienter. In den USA liegt der Anteil sogar bei 14 Prozent, während gleichzeitig ein großer Teil der Bevölkerung medizinisch unterversorgt bleibt.
"Die Lohnnebenkosten sind zu hoch"
Die Lohnnebenkosten, die Unternehmensbeiträge zur Sozialversicherung müssten gesenkt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu erhalten, heißt es regelmäßig
Der europäische Vergleich zeigt dagegen, dass der Beitrag der Versicherten zu den Gesamteinnahmen des Sozialschutzes mit 22,9 Prozent zwar knapp unter dem EU-Durchschnitt von 24,3 Prozent liegt. Dafür ist der Beitrag des Staates zu den Sozialversicherungen mit 46,7 Prozent aber deutlich höher als der EU-Durchschnitt von 31,4 Prozent. Und auf diese Weise wird es möglich, dass der Arbeitgeberanteil mit 25,8 Prozent ebenso deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 39,2 Prozent liegt.
Eine vergleichsweise hohe Fiskalisierung der Sozialversicherung ermöglicht also in erster Linie Patronatsbeiträge zu sparen, die niedriger sind als in den meisten anderen EU-Staaten. Auch wenn diese Politik inzwischen aus Angst um den Export von Sozialleistungen zugunsten von Grenzpendlern zunehmend in Frage gestellt wird.