Wenn nach den Anschlägen von Paris und Saint-Denis der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nicht nur ein Kampf zwischen Selbstmordattentätern in Frankreich und Düsenjägern in Syrien, sondern auch, wie allseits behauptet, zwischen Obskurantismus und Aufklärung ist, dann darf man nicht dem Obskurantismus erliegen und die Attentate als unverständlich abtun, wie es beispielsweise der Erziehungsminister in einem Rundschreiben an die Schulen tat. Wer seine Gegner besiegen will, muss ihnen zuerst zuhören und sie verstehen. Wenn Mörder während ihrer Taten rufen, Gott sei groß, muss man sie erst einmal beim Wort nehmen, statt vorschnell zu behaupten, die Größe Gottes habe nichts mit Religion zu tun, wie dies der Papst, die Schura und déi Lénk tun. Denn es gibt keine reine, in himmlischen Sphären schwebende Religion, die vom irdischen Missbrauch geschützt gehört, sondern Religionen sind immer, wenn auch transzendental verklärte, gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den Menschen. So wie selbst die schlimmsten Verbrechen nicht bloß pathologisch, sondern auch Produkte gesellschaftlicher Verhältnisse sind. Aber angesichts eines Ideals selbstbestimmter und eigenverantwortlicher Individuen gehört der Unterschied zwischen Erklären und Entschuldigen ebenfalls zum Erben der Aufklärung.
In vielen vom Weltmarkt, der Konkurrenzwirtschaft und der Säkularisierung gewaltsam durchdrungenen und auseinandergerissenen Gesellschaften auf allen Kontinenten gibt es Menschen, die Zuflucht in der wortgetreuen Auslegung heiliger Schriften suchen, um zurück in die strenge Autorität eines glorreichen Altertums zu finden, das es so nie gab. Hierzulande sind das die friedlichen, älteren Christen, die vor dem Bahnhof für den Wachtturm werben, und in Israel regieren brutale jüdische Orthodoxe mit. Die jahrzehntelangen Kriege von Algerien über den Nahen Osten bis nach Afghanistan machten Teile des islamischen Fundamentalismus zwangsläufig kriegerisch, umso mehr als seine Truppen immer wieder von den USA, Pakistan, der Türkei, Saudi-Arabien, dem Iran oder Luxemburgs „strategischem Partner“ Katar für Stellvertreterkriege aufgerüstet werden. Der willkürliche Krieg gegen den Irak, die Hemmungslosigkeit der israelischen Regierung, die rasch gescheiterten Revolutionen in Nordafrika und Syrien verstärken noch die Überzeugung vieler Opfer dieser Verhältnisse von deren Ausweglosigkeit.
Durch die Interessenwidersprüche all der lokalen Mächte im Kampf gegen Sunniten oder Schiiten, gegen Kurden oder die syrische Diktatur entstand in Teilen des Iraks und Syriens ein Machtvakuum, das es fundamentalistischen Truppen ermöglichte, in besetzten Gebieten einen Islamischen Staat nach dem Vorbild der mittelalterlichen Kalifate oder des Osmanischen Reiches auszurufen. Der Ruf schallte dank moderner Kommunikationstechniken bis nach Europa, in historische Industrie- und Arbeiterstädte, wie Manchester, Saint-Denis und Molenbeek, die nach wiederholten Wirtschaftskrisen zu Arbeitslosen- und Armenvierteln geworden sind, wo die aus Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten eingewanderten Familien von Arbeitern und kleinen Geschäftsleuten trotz ihrer nunmehr britischen, französischen oder belgischen Staatsbürgerschaft zu einem würdelosen Leben am Rand der Gesellschaft verurteilt sind. Der Ruf war so verlockend, dass einige ihrer Söhne und Töchter binnen kürzester Zeit von Kleinkriminellen zu Massenmördern wurden.
So wie laut Clausewitz Krieg, ist auch Terrorismus Politik mit anderen Mitteln. Die juristische, polizeiliche und militärische Aufrüstung ist deshalb ein bald notwendiges, bald missbräuchliches Mittel zur Symptombekämpfung. Fern aller moralischen Kreuzzüge, Psychologisierung der Täter und theologischen Dispute kann die Ursachenbekämpfung nur politisch sein. Doch wer will das schon?