In der Nacht zum Samstag brachten mit Maschinenpistolen und Sprengstoff ausgerüstete Kommandos in Paris und Saint-Denis 129 Besucher der Konzerthalle Bataclan, des Stade de France und verschiedener Restaurants um und verletzten 352 weitere. Kurz danach wurde über Twitter eine auf den 2. Safar 1437 (14.11.2015) datierte Erklärung verbreitet, laut der „Soldaten des Kalifats“ die „Hauptstadt der Abscheu und Perversion“ als Ziel ausgewählt hätten, weil Frankreich „sich brüstet, den Islam in Frankreich zu bekämpfen und mit seinen Flugzeugen Muselmanen im Land des Kalifats zu treffen“.
Am Morgen nach den Anschlägen kam in Luxemburg der Groupe de coordination en matière de lutte contre le terrorisme zusammen. Diese vom Haut-commissaire à la Protection nationale geleitete Gruppe setzt sich aus Vertretern des Außenministeriums, des Justizministeriums, des Ministeriums der Inneren Sicherheit, dem Geheimdienstdirektor, dem Polizeidirektor und dem Generalstaatsanwalt zusammen. Die Beamten hatten auf der Grundlage von in- und ausländischen Geheimdienstberichten, Polizeirapports und Pressenachrichten das Ausmaß der terroristischen Bedrohung in Luxemburg neu zu bewerten. Dabei ging es um die Frage, ob es angebracht sei, der Regierung die Ausrufung der dritten Alarmstufe des „Vigilnat-Plans vorzuschlagen oder es bei der zweiten zu belassen.
„Vigilnat“ ist ein Kürzel für „vigilance nationale“ und der Name des „Regierungsplans zur nationalen Wachsamkeit gegenüber terroristischen Handlungen“. Der teilweise vertrauliche Plan ist neu: Er wurde nach den Anschlägen auf die Zeitung Charlie hebdo und einen koscheren Supermarkt in Paris vom Haut-commissaire à la protection nationale ausgearbeitet und vor acht Monaten, am 27. März, vom Regierungskabinett verabschiedet. Am 23. Oktober war er zuletzt abgeändert worden.
Wie bei ähnlichen Plänen in den Nachbarländern ist der Kern von „Vigilnat“ eine Abstufung der geschätzten terroristischen Bedrohung. Doch während die französische Regierung vergangenes Jahr die Zahl der Alarmstufen ihres Plans „Vigipirate“ von fünf auf zwei, auf „Wachsamkeit“ und „Alarm“, senkte, enthält der Luxemburger Plan, ähnlich dem belgischen, vier Bedrohungsstufen.
Gleich bei Inkrafttreten des Plans im Frühjahr wurde die „mittlere“, zweite Bedrohungsstufe beschlossen, die von einer „reellen, aber abstrakten“ terroristischen Bedrohung ausgeht. Das heißt in der Praxis, wenn „reelle“ Anschläge angekündigt oder ausgeführt wurden – aber in den Nachbarländern und deshalb hierzulande „abstrakt“ bleiben. Bei dieser Alarmstufe wird bereits eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen vorgenommen, strategische Einrichtungen werden stärker abgeschirmt, verdächtige Personen enger überwacht.
Für den Groupe de coordination en matière de lutte contre le terrorisme stellte sich nach den „zwei TGV-Stunden entfernten“ Anschlägen die Frage, ob sich nicht eine zusätzliche Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen aufdränge. Die von den Anschlägen in Frankreich schockierte Öffentlichkeit würde es kaum verstehen, wenn die Regierung und die Sicherheitsbehörden nicht deutlich reagierten. Andererseits drohte die Erklärung der dritten Alarmstufe Panik in der Öffentlichkeit auszulösen, da diese für den Fall einer „schweren“ Bedrohung durch eine „wahrscheinliche und konkrete“ Gefahr gilt. Dies war aber nicht der Fall, da Luxemburg nicht an den Angriffen auf das „Kalifat“ im Irak und in Syrien beteiligt und seine strategische Rolle selbst in Zeiten des europäischen Ratsvorsitzes bescheiden ist.
So stellte man den großen Abstand zwischen den Alarmstufen zwei und drei als eine Schwäche von „Vigilnat“ fest und einigte sich in Ermangelung einer Stufe „2,5“ darauf, es bei Stufe zwei zu belassen, da sie sowieso eine befristete Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen nach Belieben vorsieht. Dazu gehören auf Nachfrage Frankreichs verstärkte Kontrollen in den Zügen und Flugzeugen sowie Grenzkontrollen an der Südgrenze. Außerdem wurde die Polizeipräsenz in der Öffentlichkeit verstärkt und selbst die Zollbeamten wurden in Uniform losgeschickt. Dadurch werden erfahrungsgemäß keine Anschläge verhindert, aber das Schutzbedürfnis der Öffentlichkeit wird bedient und die Regierung zeigt, dass sie sich um die öffentliche Sicherheit kümmert.
Letzteres ist nicht unwichtig in Oppositionszeiten der CSV. Während der sozialliberalen Koalition 1974 bis 1979 hatten die oppositionelle CSV und das Luxemburger Wort Probleme des Strafvollzugs genutzt, um im Namen von Law and Order eine anhaltende Kampagne gegen den angeblichen Laxismus der Regierung zu führen. Schon meldete sich am Dienstag der einst für Geheimdienstoperationen zuständige Beamte Frank Schneider bei RTL Télé zu Wort, um DP, LSAP und Grünen vorzuwerfen, den Geheimdienst bis zur Handlungsunfähigkeit destabilisiert zu haben, bloß um die Regierung Juncker/Asselborn zu stürzen. Sein ebenfalls dienstenthobener Kollege André Kemmer haute einen Tag später in der Revue in die gleiche Kerbe. Eine schönere Vorlage kann man CSV-Kreisen kaum bieten, die den parlamentarischen Untersuchungsausschuss über Jean-Claude Juncker und den Srel noch nicht verziehen haben.
Die Umsetzung der am Samstag schließlich von der Regierung gutgeheißenen Maßnahmen verlief allerding nicht ohne Schwierigkeiten. Ein bereits vorbereitetes Kommunikee mit weiteren Einzelheiten wurde zurückbehalten. Am Mittwoch musste sich Premier Xavier Bettel nach der Kabinettsitzung noch einmal dafür rechtfertigen, dass Luxemburg, im Gegensatz zu seinen drei Nachbarländern, die Alarmstufe nicht erhöht hatte: In Frankreich seien schließlich Attentate verübt, in Belgien Attentäter festgenommen und in Deutschland sei eine konkrete Bedrohung festgestellt worden. Dies alles sei hierzulande nicht der Fall, so Xavier Bettel.
Am auffälligsten am „Vigilnat“-Plan ist jedoch, dass er keine Alarmstufe „null“ oder „weiß“ für die Abwesenheit einer terroristischen Bedrohung vorsieht, wie der französische „Vigipirate“ bis voriges Jahr. Die erste, „schwache“ Stufe von „Viginat“ gilt gleich für eine „mögliche, aber wenig wahrscheinliche Bedrohung“, gegen die im Detail geheim gehaltene, ständige Sicherheitsvorkehrungen eingesetzt werden. Das Fehlen einer Alarmstufe „null“ ist nicht nur eine starke politische Aussage, dass auch Luxemburg in dem von US-Präsident George W. Bush am 20. September 2001 ausgerufenen „Krieg gegen den Terrorismus“ lebt, sondern auch, dass dessen Ende weder vorgesehen, noch angestrebt ist. Dass die Bedrohung und damit auch die gesellschaftliche Mobilisierung gegen einen inneren und äußeren Feind nunmehr ein Dauerzustand ist.
Zu dieser Mobilisierung gehört, dass nach jedem großen Anschlag in einem verbündeten Staat das gesetzliche Arsenal zur Terrorismusbekämpfung erweitert werden soll, auch wenn sich bisher nicht erkennen ließ, welchen Nutzen dies erbrachte. Nächste Woche treffen sich Premier Xavier Bettel (DP), der grüne Justizminister Felix Braz, Innenminister Dan Kersch (LSAP) und der Minister für Innere Sicherheit, Etienne Schneider (LSAP), mit Vertretern der Staatsanwaltschaft, des Untersuchungskabinetts, der Polizei und des Geheimdienstes, um über eine legislative Aufrüstung zu diskutieren. Auf jeden Fall soll das Gesetz über die Reform des Geheimdienstes spätestens nächsten Monat verabschiedet werden. Und auch die Reform des Haut commissariat à la protection nationale soll nach den im April eingebrachten Änderungsanträgen so schnell wie möglich Gesetz werden. Der Staatsrat hatte sie vor über zwei Jahren gebremst, weil sie keine klare Regelung vorsah, um in Krisensituationen Teile der Verfassung außer Kraft zu setzen und der Regierung außergewöhnliche Vollmachten zu verleihen.
Zur Reaktion auf jeden großen Anschlag in einem verbündeten Staat gehört auch die moralische Aufrüstung, deren Ziel es ist, das öffentliche Entsetzen zu kanalisieren, Feindbilder zu bestimmen und eine Diskussion über die politischen Ursachen des Terrorismus zu verhindern. Minister Claude Meisch (DP) forderte am Montag alle Lehrer auf, die Anschläge im Unterricht zu behandeln und sogar einen gemeinsamen Religions- und Moralkursus zu veranstalten. Gleich in der ersten Zeile seines Rundschreibens geht die Rede von „attaques incompréhensibles“, so als wollte der Erziehungsminister den Schulen jeden Erklärungsversuch verbieten.
Im Fach Moralische Aufrüstung will sich Premier Xavier Bettel nächste Woche mit den Fraktionsvorsitzenden von CSV, DP, LSAP und Grünen treffen, um über ein nicht nur von ADR- und CSV-Politikern, sondern inzwischen auch von LSAP-Politikern gefordertes Gesetz gegen die Ganzkörperverschleierung zu beraten. Justizminister Félix Braz hatte dies noch vergangene Woche ein „Randphänomen“ von ganzen 16 islamischen Frauen genannt. Nun sollen diese Frauen in die Nähe von Terroristen gerückt werden.
Bei der militärischen Aufrüstung will die Regierung sich dagegen zurückhalten. Dass die französische Regierung sich am Montag auf Artikel 42.7 des Vertrags von Lissabon berief, um den militärischen Beistand der Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzufordern, sorgte für Überraschung. Die Regierung ist sich einig, dass Luxemburg nicht abseits stehen kann, sich aber um keinen Preis in den Kampf gegen den islamischen Staat in Syrien und dem Irak hineinziehen lassen darf. Nicht nur weil es sowieso an den militärischen Mitteln fehlt, sondern weil mit Ausnahme ausgerechnet des russischen Einsatzes diese Angriffe jeder völkerrechtlichen Grundlage entbehren. Zudem will man, ebenso wenig wie andere Verbündete Frankreichs, Terroristen des Islamischen Staats auf sich aufmerksam machen. So dass Luxemburg möglicherweise dem Unteroffizier, der als Ausbilder an der Mission EUTM Mali teilnimmt, einen Kollegen als Verstärkung schickt, um die französische Armee zumindest symbolisch an ihrer zweiten Front zu entlasten, wenn sie in Syrien den Islamischen Staat bombardiert.