Belgien wäre eine wunderbare Nation, wenn es denn eine einzige wäre, und im Gegensatz zu den Orangisten und dem Klerus waren es die fortschrittlichsten und aufgeklärtesten Luxemburger, die 1839 die Abtrennung des Großherzogtums beweinten. Heute wird Belgien vor allem als Hort eines mit Unverständnis zur Kenntnis genommenen Sprachenstreits angesehen. Als das Luxemburger Parlament vor 30 Jahren das Sprachengesetz verabschiedete, um den aufkommenden Rechtsradikalen den Nationalismus streitig zu machen, hatte der sehr konservative Linguist und Literaturpapst Fernand Hoffmann davor gewarnt, dass nun auch dem Großherzog ein Sprachenstreit wie in Belgien drohe. Weil sich niemand einen Sprachenstreit zwischen Ösling und Minette wie zwischen Flandern und Wallonien vorstellen konnte, wurde Fernand Hoffmann vorgeworfen, er drücke bloß den Frust eines bei der Abfassung des Gesetzes übergangenen Experten aus.
Doch heute stellt sich die Frage, ob es nicht eine ganze Reihe Leute gibt, die sich bemühen, Fernand Hoffmann posthum Recht zu geben. Wer im Frühjahr öffentlichen Debatten über das Referendum beiwohnte, wurde Zeuge, wie systematisch die Diskussion vom Wahlrecht zur nationalen Identität und von der nationalen Identität zum Schutz der Luxemburger Sprache abglitt. Der soeben vom Justizminister veröffentlichte Vorentwurf zur Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes wird vor allem dafür kritisiert, dass er die sehr technokratisch klingenden Normen der Sprachkenntnisse ändern will, die zum Erlangen der Luxemburger Staatsbürgerschaft vorgeschrieben sind. Rechte Nationalisten setzen jede vermeintliche oder tatsächliche Senkung dieser Sprachhürde mit einem „Ausverkauf der Nation“ gleich.
In dem sehr kleinen und sehr spät entstandenen Nationalstaat wird die Sprache als einziges Symbol der nationalen Eigenart angesehen. Deshalb dient sie nicht nur, wie jede Sprache, der Verständigung zwischen den Menschen, sondern auch dem Gegenteil, der Abgrenzung. Hinzu kommt, dass das Luxemburgische, ähnlich dem Flämischen, bis ins 20. Jahrhundert die Sprache des wenig gebildeten und armen Volks und das Französische die Sprache der Herrschenden und Reichen war. In einem Akt der sozialen Revanche hat sich dieses Verhältnis, wie zwischen dem nun reichen Flandern und dem verarmten Wallonien, umgekehrt, so dass sich Sprachforscher beeilten, dem einst verpönten „Bauerndialekt“ die Weihe der „jüngsten germanischen Sprache“ zu verleihen.
Beim Referendum über das Ausländerwahlrecht hatte sich eine Koalition von Wahlberechtigten mit niedrigen Einkommen und von Beamten gebildet, die ihre als nationale Identität glorifizierten Einkommen, Arbeitsplätze und gesellschaftliche Stellung mit Hilfe der Staatsbürgerschaft gegen oft gebildetere und dynamischere Konkurrenten aus dem Ausland zu verteidigen versuchten. Weil die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes nicht nur für die Regierung die Fortsetzung der Referendumsdebatte mit anderen Mitteln ist, soll der Kampf nun weiter gehen.
In einem Land, wo jeder Laib Brot von Grenzpendlern, die nie die Staatsbürgerschaft zu beantragen gedenken, in einer Fremdsprache verkauft wird, soll das patriotisch verbrämte Luxemburgische gegen ausländische Konkurrenten verteidigt werden als Bildungsprivileg der wenig Gebildeten und als Pin-Code zum Zugang zum öffentlichen Dienst. Dieser Einsatz macht einen Sprachenstreit zu mehr als einem Spiel von Heimattümlern und Sprachschützern, und bei einer Verdoppelung der Arbeitslosenrate oder einer Halbierung des Sozialstaats könnte er rasch jene belgische Virulenz erreichen, vor der ein gründlich missverstandener Fernand Hoffmann schon vor drei Jahrzehnten warnte.