Luxemburg schickt sich an, seinen 150. Geburtstag als eigenständiger Staat zu begehen. Für die Fete am kommenden Dienstag haben sich die Regierungschefs jener Länder Stelldichein in Luxemburg gegeben, die am 19. April 1839 in London die Vertragstexte — sie sind in dieser Ausgabe nachzulesen — unterzeichneten. Über die war man nicht besonders glücklich im Großherzogtum, denn die Tragweite der von den Unterzeichnermächten zugesicherten Unabhängigkeit war damals kaum zu erfassen, wohl aber der Preis dafür: Die territoriale Teilung, die dritte und letzte in der Geschichte des Landes, wurde schmerzhaft von der Bevölkerung diesseits wie jenseits der Trennlinie empfunden. Erst im historischen Rückblick erweist sich die Entscheidung von 1839 als ausgesprochener Glücksfall, dessen Konsequenzen für Land und Leute bis heute nachwirken.
Dieser Jahrestag ist von der historischen Bedeutung des Ereignisses her durchaus ein Grund zum Feiern. Er ist aber zugleich Aufhänger für eine großangelegte und dennoch preisgünstige Luxemburg-Werbung draußen in der Welt, mit der die Existenz der europäischen Minination unterstrichen und das schiefe Bild zurechtgerückt wird, das man sich mitunter im Ausland von dem überdurchschnittlich wohlhabenden und daher auch schon verdächtigen Kleinstaat macht. Wenn den Nachbarn und euro[-]päischen Partnerländern bei dieser Gelegenheit ein Eindruck vermittelt wird, der etwas näher an der Wirklichkeit ist als die gewöhnlich mit Steuerparadies- und ähnlichen Vorurteilen gespickten Darstellungen des Großherzogtums, wird die Jubiläumsfete mehr als ihr Geld wert gewesen sein.
Da die Unabhängigkeitsfeier jedoch nicht bloß Reklamezwecken dienen, sondern auch den Luxemburgern Anlaß zur Besinnung auf die nationale Identität sein soll, wäre eine gewisse Anteilnahme der Bevölkerung schon angemessen. Doch mit der scheint es, aus welchem Grund auch immer, zu hapern. Nicht von ungefähr wird deshalb die Erinnerung an das Unabhängigkeitsjubiläum von 1939 beschworen, als das Zentenarium des Londoner Vertrags — wie es in P.J. Mullers „Tatsachen aus der Geschichte des Luxemburger Landes“ heißt — „im ganzen Lande, in Dorf und Stadt, von arm und reich, würdig und mit großer Inbrunst gefeiert“ wurde. Der Unterschied zu damals ist freilich nicht zu übersehen, die Veränderung im Nationalgefühl, das sich damals seinem Höhepunkt näherte, nicht zu leugnen.
1989 ist nicht 1939. Damals ließ die akute Nazi-Bedrohung die Bevölkerung zusammenrücken und löste jene patriotische Welle aus, mit der das um seine Existenz bangende Großherzogtum seinen Überlebenswillen dokumentierte. Heute ist eine ähnliche Bedrohung nicht einmal ansatzweise auszumachen — auch wenn überängstliche eine solche in der europäischen Integration wittern und deshalb die Annäherungsbemühungen der EG-Partner zur Ersatz-Gefahr für unsern nationalen Fortbestand hochzuspielen versuchen. Mit der Zeit und vor allem mit den äußeren Umständen, die von einer zunehmenden Interdependenz der Einzelstaaten untereinander geprägt sind, hat sich die Einstellung gegenüber herkömmlichen Werten wie Patriotismus und Nationalgefühl deutlich und wohl auch unwiederbringlich verändert.
Unser Unabhängigkeitsjubiläum sollte denn auch weniger Anlaß zu nostalgischen Reminiszenzen und zur Verherrlichung einer Souveränität sein, die es so absolut zu keinem Zeitpunkt in den 150 Jahren gegeben hat, als vielmehr Ausgangspunkt für eine Neupositionierung des Großherzogtums im veränderten europäischen Umfeld. Auch wenn die Vereinigten Staaten von Europa nicht für morgen sind, wird doch mit der für 1993 angepeilten Verwirklichung des Binnenmarkts ein gewisser Souveränitätsschwund einhergehen. Für ein Land wie Luxemburg, das seine kleinstaatliche Eigenständigkeit gewinnbringend wie kein anderes einsetzt, wird diese Aufweichung der nationalen Kontur zwangsläufig eine Umstellung bedeuten, wenn es seinen Platz ganz oben auf der Wohlstandsleiter behaupten will.
Vor 150 Jahren entschieden ausländische Diplomaten über das Geschick des Großherzogtums. Im großen EG-Wirtschaftsraum, in dem die Region sich neben der Nation als territoriale Einheit herausbilden wird, werden nicht mehr die Politiker, sondern die Infrastruktur und die Professionalität der Ballungszentren darüber entscheiden, wer sich mit der Zeit zur jeweiligen Regionalkapitale aufschwingt und wer auf der andern Seite im Provinzialismus versinkt. Luxemburg kann sich durchaus seinen Platz in der ersteren Kategorie sichern, wenn es den Vorsprung zu nutzen weiß, den es in den 150 Jahren dank seiner Souveränität herausgeschlagen hat.