Erna würdigt die Behauptung ihres Wottilla, der weiß, „dass es gescheit wär, ein schlichtes Kreuz gegenüber der Klomuschel aufzuhängen oder eine Photographie vom Bundespräsidenten. Das täte die Menschen auf ihre Minderwertigkeit hinweisen, da könnten sich die Menschen besinnen, dass sie selber nur kleine Scheißhaufen sind“. Die Unterwürfigkeit auch der frömmelnden, gottseligen Mariedl nimmt in ihrem Austausch mit den viel älteren Freundinnen Erna und Grete zusehends an Ekel zu. Das Trio hat sich in Ernas kleinstbürgerlicher Wohnung eingefunden, geprägt von deutschem Gartenzwergmief und Götzenbildern katholischer Kitschromantik. Hinter diesen vier Wänden entpuppt sich der Glaube nicht als Quelle zur Lebenserfüllung, sondern als Waffe der Subversion, gegen sich selbst und einen jeden gerichtet. Die eigene Armut, sei sie sozial, materiell oder geistig, das eigene biografische Scheitern wird hier je nach Figur zur Tugend erklärt, spöttisch genossen oder künstlich verdrängt.
Charles Muller inszeniert Die Präsidentinnen des 1994 35-jährig verstorbenen Enfant terrible der österreichischen Bühnenwelt, Werner Schwab. Unter seinen, ja nun, als „Fäkaliendramen“ bezeichneten Werken war auch dieses erfolgreich. Sei Muller auch noch so sehr darin bestrebt gewesen, Schwabs Fassung zu entschärfen, so bietet sich im Théâtre municipal d’Esch eine 90-minütige Zumutung mit höchstem Ekelfaktor. Die fäkalsprachliche Wucht von Schwabs Figur Mariedl schürt so manches Fremdschämen, so manches angewiderte Aufstöhnen inmitten des Publikums. Friedl ist so beliebt und bewundert in ihrer Gemeinde, weil sie es wagt und sichtlich genießt, ganz ohne Handschuhe in verstopfte Klosetts zu greifen und die gröbsten Auswürfe menschlicher Notdurft, ja selbst so manche Dose Gulaschfleisch oder aber Parfümflaschen aus der Muschel zu fischen. Im tiefen Griff ins Klo sublimiert Schwab eine unzumutbare Pervertierung katholischer Unterwürfigkeit und Dienstbarkeit bis hin zur völligen seelischen Selbstaufgabe. Lebensgenuss sei den anderen beschieden: „Die Mariedl spürt es ganz genau, wenn die Herzen der anderen Menschen feierlich werden und zu springen anfangen wie ein Gummiball.“
Während Schwab seine reizvollste Figur mit der Feder auseinandernimmt, tut Mariedl am Ende ein Gleiches mit den beiden Gegenüber auf inhaltlicher Ebene: Grete erzählt unter wachsendem Alkoholeinfluss von dem Heiratsantrag durch einen Musiker der Abendkapelle, Erna hingegen träumt vom sozialen Aufstieg in der Beziehung zu einem polnischen Fleischermeister. Ihre Illusionen arten zur Groteske aus, auch und gerade dank Mariedls fauchender Hasstirade gegen Ende des Theaterabends. Je schneller sich die Weinflasche leert, umso brachialer offenbaren sich Motive der Christlichkeit als schnöde Spießerfassaden vor latenter Zerfleischungswut. Bei Schwab ist der Mief eine Zeitbombe, läuft der Kathole Amok.
Das Intermezzo der alpenländischen Tuba-Bläser trennt die Szenen auf absonderliche, aber stimmige Weise. Der von laut hereinbrechender Popmusik begleitete und wie von Geisterhand betriebene Aufschlag der rustikalen Holzschränke unterstreicht die inhaltliche Kontrastierung von Konvention und Extrem in Ausdruck und Handlung. Ihren Höhepunkt an Radikalität erreicht die Inszenierung jedoch mit der metaphorischen Dekonstruktion jener Furie, die sich anschickt, ihre Illusionen zu zertrümmern: Sehr organisch schlachten Erna (Christiane Rausch) und Grete (Ilona Schulz) ihre Freundin Mariedl und weiden Darm, Herz und Zunge aus. Wer ihren Hang zur Selbstillusion derart bloßstellt, sei verdammt.
Nichts aber in Mullers Inszenierung muss so sehr hervorgehoben und gepriesen werden, wie Krista Birkners brillante Leistung als naiv frömmelnde und am Ende explodierende Mariedl. Es lässt sich die Qualität besonderer Vertreter der darstellenden Künste daran messen, wie präzise sie in jenen Momenten spielen, da sie nicht im Fokus der Handlung stehen. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass ihre Figur ein besonderes Profilpotenzial bietet, muss doch festgestellt werden, dass Birkner dem Rest des Ensembles selbst dann die Show stiehlt, als sie dramaturgisch eigentlich im Hintergrund bleibt.
Die Vorstellung endet in einem schrillen Lied, der „dritten Szene“, darin jeder Gottesglaube als masochistische Selbstaufgabe verurteilt wird: „Der Herrgott is a Schnellkochtopf/da wirst du ganz schnell weich/ er kocht dir deinen schweren Kopf/ und tröstet deine Leich.“
Mullers Inszenierung von Schwabs Die Präsidentinnen ist unzumutbar, politisch bis ins Mark unkorrekt, sprachlich so brachial, dass es knirscht. In einem Zeitalter des sekundenschnellen Griffs zum Youporn-Filmchen und Brutalo-Mitschnitten auf Kinder-Smartphones scheint nichts mehr tabuisiert zu sein. Die Reaktion des Publikums auf Schwabs Fäkalmetaphorik korrigiert: Scheiße ist tabu, auch heute noch. Nur ist dieses Tabu für Schwab ebenso antastbar wie kleinbürgerliche Fassaden. Die Präsidentinnen ist – derart herausragend gemimt – ein ganz großer Wurf.