Am 1. Oktober feiert Homo Sapiens: Terror Terrestris – Aberwitziger Totentanz am Kapuzinertheater Premiere – eine „Welturaufführung“, wie das Théâtre national wohl schreiben würde – und eröffnet so die Saison 2012/2013 der Eigenproduktionen. Von Regisseur Martin Engler und Dramaturgin Johanna Dangel aus Versatzstücken verschiedener Autoren zusammengefügt, führt Terror Terrestris durch ein Jahrhundert Krieg und Zerstörung am Beispiel der Erfindung der Ammoniaksynthese durch Fritz Haber. Dies mit einem Ensemble hochkarätiger Künstler – Schauspieler, Musiker, Filmemacher, Wissenschaftler und Tüftler. d’Land begleitet den Schaffensprozess des Theaterexperiments.
Steve Karier läuft durch den Saal und legt die Stirn in Falten, fummelt an seinem Sakko herum. Sitzt sich wieder, beugt sich nach vorne. „Ich bin auf der Suche nach einer Haltung“, erklärt er auf den fragenden Blick des Regisseurs hin. Längst sind die Proben vom Tisch weg, haben den ganzen Saal im ersten Stockwerk des Kapuziner-
theaters unter Beschlag genommen. Neben der Tür steht noch immer jener Tisch mit einer Menge Kram darauf, daneben ein Caddie mit Gebeinen von Schaufensterpuppen; ein Kleiderständer mit Requisiten und ersten Kostümen; eine Holzwand mit Papierschnipseln, auf denen handgeschriebene Sprüche stehen wie: „Künstler an der Leistungsgrenze“.
Auf der anderen Seite trocknen die Pappteile eines Mobiles an verbogenen Kleiderbügeln, Reagenzgläser in blau, damit Bilder darauf projiziert werden können. „So habe ich mir Wissenschaft immer vorgestellt, als ich vier oder fünf war“, grinst Martin Engler. „Und so erscheint sie mir eigentlich noch immer. Das wird hier wie auf der Schuebefouer!“ Entlang der Fensterfront ein langes Regiepult. An dem sitzt Julie Schroell hinter unzähligen Computerschirmen, zerlegten Technikteilen und Kameras, sucht ständig Bildmaterial, das sie live an den Beamer schickt. Daneben das Brimborium der Musiker, Bo Wiget, Cello, und Matthias Trippner, Drums. „Lasst uns auf eine Reise gehen!“ nennt Bo Wiget die Improvisationssessions – und dann geht’s los.
Angefangen hat alles mit einem gigantischen Textbuch, das Martin Engler im Frühling an alle Mitwirkenden verschickte. Fast 300 Seiten Textreferenzen von Einstein bis Delillo, über Lafargue, de Beauvoir, Benjamin, Prevert oder Jodorowsky. Ein undurchschaubares Gedankendickicht, das vor allem Angst machte: Wie ist so etwas auf einer Bühne zu bewältigen? Und vor allem: Was will uns der Künstler damit sagen? „Die letzten Jahre waren geprägt von Kriegen und Krisen“, erklärt Martin Engler. „Ich fühlte mich desinformiert, hatte das Gefühl, dass das ein politisches Mittel ist, um Druck auf die Bevölkerung auszuüben.“ Also informiert sich Engler, um zu verstehen und sich nicht mehr so „verarscht“ zu fühlen, liest viel Giorgio Agamben und Slavoj
Zizek – und versteht: „Die Bürger kommen nicht mehr an die politischen Prozesse heran, sie sind dem Kreislauf völlig ausgesetzt. Du kannst nicht mehr mitreden, wie du die Gesellschaft gestalten willst!“ Also will er Zusammenhänge aufweisen, die Verstrickungen freilegen zwischen Wirtschaft, Staat und Militär, die die Geschichte bestimmen und niemals abbrechen, „nicht mal unter Hitler“.
Die Hauptfigur des Stückes ist der deutsche Chemiker Fritz Haber, 1868 in Breslau geboren, der 1919 den Nobelpreis für die Entwicklung der Ammionaksynthese erhielt. Das Verfahren führte sowohl zur Entwicklung von Kunstdünger als auch zur industriellen Produktion von Giftgas, das später, nach seinem Tod, in den Gaskammern des Dritten Reiches eingesetzt wurde. Fritz Haber, selbst Jude, hat demnach wesentlich zum Massenmord am eigenen Volk beigetragen. Seine Frau Clara Immerwahr, Deutschlands erste promovierte Chemikerin, beging 1915 Selbstmord (mit seiner Dienstwaffe!), weil sie nicht mit dem Einsatz ihres Mannes und seiner Erfindungen in der Armee während des Ersten Weltkriegs einverstanden war. „Der Gelehrte gehört im Krieg wie jedermann seinem Vaterland“, war Habers Spruch, „im Frieden aber gehört er der Menschheit.“
Johannes Lepsius und Enver Pascha sind jedoch die Protagonisten der heutigen Probe. Lepsius, der deutsche Theologe und Orientalist, Mitbegründer der Orientgesellschaft, sucht Pascha, den Generalleutnant und Kriegsminister des Osmanischen Reiches auf, um ihn zu überzeugen, den Genozid am armenischen Volk zu beenden – zwischen 1915 und 1919 wurden, je nach Quelle, bis zu 1,5 Millionen Armenier deportiert und in den Tod getrieben. Franz Werfel hat dieses historische Treffen in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) niedergeschrieben, ein gewaltiger literarischer Text.
Brigitte Urhausen ist Pascha, Nickel Bösenberg spielt den Lepsius. Die Spannung baut sich auf. „Ich achte die Deutschen sehr hoch!“, schießt sie los – und springt vom Tisch. Es folgt ein mehr als halbstündiger Dialog auf höchstem Niveau, ein hochkarätiges Beispiel der Machtlosigkeit der Diplomatie. Pascha und Lepsius, Urhausen und Bösenberg liefern sich ein ebenso raffiniertes, wie sinnloses Wortgefecht über Völkerrecht und Staatsgewalt („Zwischen den Menschen und dem Pestbazillus gibt es keinen Frieden“, versichert Pascha), die Stimmung zwischen beiden ist mal gefährlich, mal erotisch.
Und dahinter geht die Post ab: Bo Wiget, Weltklasse-Cellist, den das Luxemburger Publikum schon in Englers Hörspiel Grenzfrequenz beim Monodramafestival 2011 im Grand Théâtre oder im Juli dieses Jahr beim Bellman-Abend Soliloquium im Théâtre national hören konnte, und Drummer Matthias Trippner, beide eigens für das Projekt aus Berlin angereist, spannen musikalische Bögen und reißen Brüche in die Stimmung. Eine halbe Stunde Improvisation mit ihnen ist besser als so manches Konzert hiesiger Musikgrößen. Währenddessen spricht Nora König mal Abendschau-Nachrichten, führt dann zu den Lehman Brothers und zur Finanzkrise, während Steve Karier als Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkrieges an Gedächtnisschwund leidet und nur stumpf wiederholt, dass er sich an nichts mehr erinnert. Clara Immerwahr wandelt als Geist durch die Szene, die Josiane Peiffer als Grande-duchesse Charlotte mit ihren BBC-Reden in die Luxemburger Geschichte hinüberzieht. Julie Schroell wird die Wände als Bluebox nutzen und darin Bilder einblenden, während der Proben filmt sie... Der Ritt durch die Grausamkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts ist rasant, die Vielschichtigkeit der freigesetzten Gedankenräume überwältigend, die Zusammenhänge auf einmal glasklar. Natürlich denkt man an Syrien, an den Irak, an Griechenland...
Es riecht nach Klebstoff. Ganz stark. Am Tisch sitzt Iwona Jera und klebt kleine Papierstückchen auf ein Blatt. „Das wird unser Tagebuch“, sagt sie. Kleine Figuren hat sie selbst gemalt, einen Comic gezeichnet, der die Stimmung am Anfang des Probenprozesses festhält, Elemente der Zeichnungen von Simon Ewans, dessen Arbeit sie kürzlich im Mudam entdeckt hat, kopiert und ausgeschnitten, dann auf die farbigen Linien des Fahrplans der städtischen Busse geklebt. Schicht für Schicht trägt sie Klebestreifen, Farbe, Zeichnungen auf, manchmal ein „Heftpflaster für die Seele“ einer der Figuren. Iwona, in Polen geboren, lebt seit 1985 in Deutschland, arbeitete zuletzt am Theater in Nürnberg und Wuppertal, unter anderem als Regisseurin – 2011 hielt sie unbedingt darauf, Martin Engler in ihrer Inszenierung von Tango von Slawomir Mrozek in Wuppertal besetzen. Nun ist sie in Luxemburg Kostümbildnerin für Terror Terrestris.
Doch in Wirklichkeit sind alle ein bisschen Crossover in diesem Gesamtkunstwerk. Denn ohne Zweifel hat Martin Engler auch die Gabe, Künstler zusammenzubringen und in einer Art Factory, einem Theater- und Musiklabor, seine Synthese des Jahrhunderts entstehen zu lassen. Erstaunlicherweise sind alle seine Projekte, die er bis heute auf Luxemburger Bühnen vorgestellt hat – zum Beispiel Naissance de la violence von Jérôme
Richer 2011 im Centaure – sowohl intellektuell heraufordernd als auch sinnlich betörende Erfahrungen. „Eine Reise“ eben.
„Die Proben laufen gut,“ sagt Steve Karier im off. „Doch am Ende hat immer der Engler das Mikrofon und singt!“ Mehr davon später.