An Da Vincis Das letzte Abendmahl erinnert die Tafelrunde, an der die Hochzeitsgäste, Braut, Familie und Freunde, Platz nehmen. Gut gelaunt setzen sich alle tanzend an den Tisch, sprechen zum Publikum. Der Vater versucht, seine Anekdoten unters Volk zu bringen, Geschichten von damals, vom Lachen und vom Sterben. Doch will sie niemand hören. Die Braut lobt ihren Bräutigam angesichts des eigenhändig zusammengeleimten Mobi-liars. Doch bricht es im Verlaufe der Zeit auseinander. Die Geschwister und Freunde sind gekommen, um zu feiern, verlieren sich aber zusehends in vulgär-lüsternen Abenteuern und gehässigen Sticheleien.
Dagmar Schlingmanns Inszenierung von Brechts weniger prominentem Einakter Die Kleinbürgerhochzeit am Théâtre national de Luxembourg enthüllt ein Standbein seines Schaffens, für das der Augsburger Dramatiker wenig bekannt ist. Zwischen die Phase der extrem didaktisierenden Lehrstücke (Die Maßnahme, 1930) und den Dauerbrennern wie Das Leben des Galilei (1938) oder Mutter Courage und ihre Kinder (1939) mischt sich ein überaus komisches, nach eigenen Angaben von Karl Valentin inspiriertes Bühnenwerk, das erst zum Ende hin ernstere Töne anschlägt.
Im Verlaufe des klimatisch konstruierten Einakters wird immer deutlicher, dass es das krankhafte Bestreben dieser kleinbürgerlichen Tafelrunde ist, die idyllische Fassade zu wahren. Der private, soziale wie berufliche Erfolg wird mit dem Schaffen eines eigenen Mobiliars und dem künstlichen Zusammenhalt der Familienstrukturen über Jahrzehnte hinweg verbildlicht. Schlingmann verdankt ihrem Ensemble von Marco Lorenzini über Dorothea Lata, Nora Koenig und Andreas Anke bis hin zu Benjamin Bieber und Roman Konieczny eine sehr komische Darbietung dieser Groteske. So werden selbst die feierlichen Momente mit einer Körpersprache verzerrt, die jede Idylle überzeichnet und damit kollabieren lässt. Andreas Ankes bizarre Tanzbewegungen und Roman Koniecznys wahnerfüllte Mimik sind unnachahmlich. Die ständigen Versuche des Vaters, das Familientreiben dank seiner Geschichten mit historischer und ästhetischer Substanz zu füllen, scheitert zum einen am Willen der Familie, die Fassade möglichst glitzern zu lassen, zum anderen an seiner eigenen Skurrilität.
Die Regieführung von Schlingmann glückt. Das abrupte Hin und Her zwischen feierlicher Stimmung und plötzlichem Frust funktioniert einwandfrei, sorgt für erste Komik. Die Positionierung der anfangs gemeinsam speisenden Familie und des späterhin getrennt nach hinten verbannten Vaters symbolisiert den Generationenkonflikt. So regt sich der Vater anschließend in luxemburgischer Sprache darüber auf, die junge Generation vernehme seine Geschichten nicht mehr und wende sich von den Alten ab. Dieser Seitenhieb auf das luxemburgische Kleinbürgertum stört in der Form, passt aber in seiner Aussage. Auch die hiesigen Schrebergärten finden bei Brecht ihr letztes Abendmahl.
Auch die Nutzung des Hohlraumes unter der Rampe, die aus dem Speisesaal in den Tanzbereich hinabführt, erweist sich als kluge Idee. Mehrfach geraten die Familienmitglieder mal mit leidender Gebärde, mal mit lüsternen Geräuschen zwischen den Fugen in diesen Zwischenbereich, um sich dort jener Triebe hinzugeben, die der netten Blumentapete im Wohnzimmer zuwider wäre. Hier wird der ominöse Raum „hinter verschlossenen Türen“ zum Untergrund.
Brechts Kritik am Kleinbürgertum wird dann zur Handlungsmitte hin bezeichnenderweise poetologisch aufgegriffen: „Bei den Modernen wird die Familie so durch den Schmutz gezogen.“ Schlingmanns Kleinbürgerhochzeit, eine sommergerecht einstündige Produktion, besticht nicht durch Slapstick, sondern direkte Komik, ein hinreißendes Ensemble und die erfrischende Erkenntnis, dass Brechts Sendungsbewusstsein wohl zeitweilig in wohltuende Funklöcher geriet.