Heinrich verschwindet förmlich in seinem rot gepolsterten Lounge-Sessel, gekleidet in einen alten, verschlissenen Anzug, eine Altherrenmütze tief in die Stirn gezogen. Seine Arme hängen lose seitlich der Armlehnen herab. Irgendwo müssen sie halt hin. Er wirkt, als könne er wenig mit ihnen anstellen. Seiner körperlichen Erscheinung setzt er einen spitzbübischen Ausdruck entgegen. Heinrich, ein gescheiterter Intellektueller, tritt wie durch einen Zufall ins Leben von Barbara und Paul ein. Sie, schrill und lebensfroh, geht auf den Strich, damit sie die Krebstherapie ihres Bruders bezahlen kann. Er, Paul, ist ein freischaffender Künstler. Früher formte er Menschen aus Holz in Lebensgröße, Prometheus gleich, heute begnügt er sich mit kalten Lehmfigürchen. Den Unfalltod seiner Ehefrau verschweigt er in der zufällig entstandenen Beziehung zu Barbara, die sich fragt: „Wieso tut er so, als ob er überhaupt keine Vergangenheit hat?“ Die Schnittmenge des Trios, so scheint es, ist die U5 und die Erfahrung mit dem Tod.
Mit Sabine Mittereckers Regiearbeit gelingt eine weitere Romaninszenierung auf den Luxemburger Bühnen. Unter anderem mit Kehlmann und Heinrich Mann war dieses Verfahren mehrfach – mal mehr, mal weniger gelungen – erprobt worden. Mit Luc Feit, Julia Malik und Germain Wagner in den Rollen wagt sich das Kasemattentheater nun an Pol Sax’ Berlin-Roman U5, für den der Schriftsteller aus Monnerich im Jahre 2009 mit dem hiesigen Servais-Preis ausgezeichnet wurde. Pol Sax’ Debütwerk besticht nicht nur als Soziogramm entwurzelter Existenzen im Gebiet entlang der U-Bahnlinie U5, dem Bereich zwischen Alexanderplatz und Hönow. Der Roman ist zudem multiperspektivisch angelegt und fährt lexikalisch wie syntaktisch auf der Überholspur.
Im Kasemattentheater, einem Spielort, an dem aufwändige Effekte hinter feinen Einfällen zurückstehen, wurden die Räumlichkeiten in der Rue du Puits kurzerhand zur fingierten U-Bahn-Station umgestaltet. Die drei Protagonisten sitzen auf ihren Lounge- beziehungsweise Bürostühlen auf einer meterbreiten Bühne, die jedoch kaum mehr als zwei Meter tief wirkt. Sie werden ständig von einem listig blickenden, ausgestopften Fuchs angeglotzt und von nicht mehr als drei sehr breiten Publikumsreihen beobachtet.
Anfangs wirkt die Inszenierung wie eine steife Talkshow, erinnert an jene Form der szenischen Lesung, mit der sich das Kasemattentheater seit ein paar Jahren mit besseren Produktionen schmückt. Die Diktion wirkt stellenweise zu gezwungen, zu präzise. Schrittweise schafft Mitterecker jedoch eine intensive Nähe zwischen Ensemble und Publikum. Bisweilen wirkt diese so intim, dass man sich als Teil des Geschehens glaubt. Zeitweise scheint sie unerbittlich. Zum einen entgeht dem Zuschauer dadurch auch Maliks Anfangsnervosität nicht, zum anderen aber begleitet das Publikum die sehnsuchtserfüllten Figuren, Barbaras seelische Schmerzen, Pauls zynisches Weltbild Sekunde um Sekunde. Die Regisseurin greift auf ein Darsteller-Trio zurück, das minütlich reift. Im Fortlauf des 70-minütigen Bühnenwerks finden Feit, Malik und Wagner immer stärker zu ihren Figuren. Gerade dem Ende hin verdichtet sich diese Dreiecksgeschichte damit nicht nur auf der Ebene der Verbalsprache, sondern auch über eine emphatische Körpersprache.
Nun mag einmal mehr die Frage nach Sinn und Zweck einer solchen gattungsübergreifenden Arbeit gestellt werden. Und doch wirkt sie angesichts des Umstandes, dass erfolgreiche Romane nun einmal dramatisiert werden, recht redundant. Aus diesem Grunde sei die Frage nicht grundsätzlich formuliert, sondern vielmehr ergebnisorientiert: Ein Blick in Pol Sax’ Roman lässt sprachliche Vielfalt und psychologische Nähe an den Figuren erkennen. Was der Roman mit seinem exklusiven Werkzeug, dem Wort, erzielt, findet Mitterecker auf den zahlreichen Elementen der Theatersprache, will heißen Mimik, Sprache, Gestik, Kulisse. Störend wirkt hingegen, dass sich die Theaterarbeit zu wenig aus dem genretypischen Erzählmodus der Vorlage zu lösen weiß. Irgendwie bleibt die Produk-tion dann doch „das Drama zum Roman“. Eines hat das Kasemattentheater in seiner Koproduktion mit den Théâtres de la Ville jedoch geschafft: Wer den Roman noch nicht gelesen hat, wird diese Lektüre schleunigst nachholen wollen.