Als sich 2008 die Krebsforschungsabteilung am Centre de recherche public de la Santé mit dem Partnership for Personalized Medicine (PPM) zum Project Lung Cancer zusammenschloss, sollte es um Früherkennung gehen. Dass Lungenkrebs meist erst diagnostiziert wird, wenn er schon ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, ist einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass Krebserkrankungen der Lunge nach wie vor zu denen mit schlechter Prognose zählen. Von den 726 Männern, bei denen zwischen 1995 und 1999 in Luxemburg ein Lungenkrebs festgestellt wurde, waren drei Jahre nach der Diagnose nur 16,4 Prozent noch am Leben, von den 175 weiblichen Patienten waren es 14,2 Prozent1.
Das Project Lung Cancer wollte aber nicht nur eine Methode entwickeln, um Krebs möglichst früh aufzuspüren, sondern auch auf möglichst einfachem Wege. Dazu sollten Proteininformationen dienen. Im Unterschied zur DNA, die eine vererbte Veranlagung enthält, sind Proteine die wichtigsten Agenten der Körperfunktionen. Ihre Produktion wird durch genetische Informationen gesteuert, hängt aber auch von Umwelteinflüssen ab. So hoffte man die Auswirkungen von Tabakrauch einzufangen, aber ebenso die von Asbest, Feinstaub aus Dieselmotoren und was sonst alles noch im dringenden Verdacht steht, die Ausbildung von Lungenkrebs zu fördern. Technisch recht einfach versprach der Ansatz zu sein, weil Organe für sie charakteristische Proteine in den Blutkreislauf ausschütten. Kranke Organe schütten andere aus als gesunde. Wüsste man, welche mit Lungenkrebs im Frühstadium in Verbindung stehen, dann könnte schon eine Blutprobe anzeigen, wann in dem Patienten Gefahr im Verzug ist und eine Fahndung nach einem Tumor angebracht – so die Idee. An das Vorhaben von PPM und CRP-Santé sollten an die 15 Millionen Euro aus der Staatskasse fließen.
Doch die Suche nach Protein-Markern gaben die beiden Partner ziemlich schnell auf. Sie erwies sich als zu kompliziert und kaum innerhalb von fünf Jahren abzuschließen. „Wir konzentrierten uns stattdessen auf Marker, aus denen hervorgehen kann, welche Chemotherapie gegen welchen Lungenkrebs wirken könnte“, sagt Guy Berchem, Onkologe am CHL und Chef des Labors für experimentelle Hämato-Onkologie am CRP-Santé. Heute ist die Partnerschaft mit dem PPM beendet und Berchem kann berichten: „Wir haben sechs neue charakteristische Marker gefunden.“ Darüber würden nächstes Jahr Fachartikel publiziert und man sei dabei, sich die Marker patentieren zu lassen. Gut möglich, dass jemand sich für sie interessiert, um sie zur Entwicklung neuer gezielt wirkender Krebsmedikamente zu nutzen.
Aber verglichen mit der Ursprungsidee, von der man annahm, würde sie realisiert, könne sie schon in absehbarer Zeit in der Praxis Verwendung finden, war die Suche nach Biomarkern, mit denen sich schon bestehende Krebs besser charakterisieren lassen, Grundlagenforschung. „Weil das Gesundheitsministerium uns bat, etwas zu machen, das den Patienten schneller etwas bringt, formulierten wir unsere Forschungsziele noch einmal um“, erzählt Berchem.
In der Folge entwickelte das Lungenkrebsprojekt neue Diagnoseverfahren für schon bestehende Tumoren. Zum Beispiel eines, um die DNA eines Tumors, die anders beschaffen ist als die gesunden Gewebes, im Blut aufzuspüren. Heute geschieht das in der Regel durch Biopsien, Gewebeentnahmen am Tumor selbst. Der Vorteil von „liquid biopsies“ aus dem Blut, wie Guy Berchem sie nennt, besteht nicht nur darin, dass sie viel weniger aufwändig und für den Patienten nicht belastend sind. Hinzu kommt: Lässt sich Tumor-DNA bereits im Blut genau genug nachweisen, dann kann man sie immer wieder auf Veränderungen testen. „In einem Tumor finden Mutationen statt. Kennt man sie, kann man gezielter behandeln“, sagt Berchem. Gemeinsam mit dem Laboratoire national de santé (LNS) erarbeitet das CRP-Santé derzeit Analyseprotokolle für die liquid biospies, damit die schon bald zu Routineuntersuchungen an Krebspatienten werden können.
Dagegen hat ein drittes Ergebnis aus dem Projekt auch politische Implikationen. Sollten Lungenkrebs-patienten, und nicht nur sie, sondern Krebspatienten generell, auf sämtliche bekannte genetische Muta-tionen getestet werden, die anzeigen können, ob jemand für eine gezielte Krebsbehandlung empfänglich ist? Und zwar nicht nur auf jene Mutationen, die schon derart gut bekannt sind, dass ein spezifisches Medikament im Handel ist, welches in den Patienten wirkt, die die betreffende Genstruktur aufweisen. Sondern auch auf jene Genveränderungen, für die sich ein neues gezieltes Medikament noch im Versuchsstadium befindet. Oder auf eine Mutation, die die Wissenschaft für einen Krebs als charakteristisch erkannt hat und für die eine gezielt ansetzende Chemotherapie schon auf dem Markt ist, neuere Forschungen aber darauf hindeuten, dass sie auch gegen andere Krebsarten wirken könnte, vorausgesetzt, der Patient weist eben diese Mutation auf.
All das ist nicht nur biologisch ziemlich komplex. Ginge es nach Krebsforscher Berchem, dann sollte so umfangreich getestet werden. Im Rahmen des Lungenkrebsprojekts wurde eine Gruppe von hundert Patienten auf sämtliche bekannte Mutationen untersucht, an die 50 Stück. Die Kosten übernahm das Forschungsministerium in seinem Budget für die luxemburgisch-amerikanische Partnerschaft. „Auf die Testergebnisse hin konnte ich Patienten in klinischen Versuchen zu neuen Medikamenten unterbringen“, sagt Berchem. Heutzutage seien für die beiden häufigsten Formen von Lungenkrebs in 33 bis 50 Prozent der Fälle gezielte Medikamente im Prinzip verfügbar. Allerdings seien die meisten noch in der Erprobung. Die Gesundheitskasse CNS bezahle jedoch nur Gentests auf die Empfänglichkeit für Medikamente, die schon auf dem Markt sind. Momentan sind das für Lungenkrebs lediglich zwei Mutationen. Doch damit erfasse man allenfalls 14 Prozent der Patienten, bedauert Berchem.
Wer Gentests bezahlt, die nicht mit einem handelsüblichen Medikament verbunden sind, sondern vielleicht in eine klinische Studie über eine neue Behandlung führen, wird regierungsintern schon diskutiert. Denn die Kresbforschung soll gestärkt werden, steht im staatlichen Plan cancer, und das könnte geschehen durch die Totalsequenzierung der Genome von Krebspatienten und denen ihres Tumors.
Doch bei solchen Diskussionen stellt sich nicht allein die Frage, wie man kurzfristig mehr Gentests bezahlt. Denn man könnte argumentieren, dass Tests, auf die hin Patienten vielleicht, aber nicht mit Sicherheit in eine klinische Studie aufgenommen werden, nicht in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung fallen. Zumal, wenn es dabei um Behandlungen geht, die noch in der Erprobung und noch nicht evidence based sind. Aber andererseits liefern Gentests, die eine Empfänglichkeit für ein Medikament anzeigen, ebenfalls keine Sicherheit. Sie zeigen nur an, wie statistisch wahrscheinlich diese Empfänglichkeit ist. Auch in Patienten, für die ein Test die Empfänglichkeit für ein schon ordentlich validiertes und bereits handelsübliches Medikament ergeben hat, ist es nicht sicher, dass die gezielte Behandlung anschlägt.
Da kündigen sich Konflikte um die „personalisierte“ Medizin an, die sich massiv stellen dürften, wenn mehr gezielte Medikamente auf dem Markt sind: Wie geht ein Gesundheitssystem mit Patienten um, auf deren genetische Beschaffenheit einfach gar keine gezielte Therapie zutrifft? Verweigert man ihnen diese dann mit Verweis auf unnötige Nebenwirkungen, in Wirklichkeit aber aus Kostengründen, denn die neuen Behandlungen können durchaus sechsstellige Summen kosten? Oder räumt man ein, nicht sicher sein zu können, ob eine Behandlung funktioniert oder nicht – dann aber hätte eine Krankenkasse eine obligation des moyens ohne Grenzen.
Der damalige Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) lobte im Juni 2008 beim feierlichen Start der luxemburgisch-amerikanischen Forschungspartnerschaft im Hôtel Royal nicht nur, wie man es von ihm gewohnt war, das zu über 90 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanzierte Luxemburger Gesundheitssystem. Er sagte auch das Mantra der personalisierten Medizin auf: Mit ihr erhalte der richtige Patient zur richtigen Zeit das richtige Medikament. Vielleicht war ihm damals nicht klar, dass dieser Satz auch impliziert, dass ein falscher Patient zur falschen Zeit das falsche Medikament erhalten kann – und dass es wenigstens einen geben kann, der gar nichts bekommt. Im Luxemburger Gesundheitssystem garantiert das Gesetz allen Sozialversicherten nicht nur den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsleistungen, sondern auch, dass die Leistungen dem „acquis de la science“ entsprechen. Wie das zur „personalisierten Medizin“ passt und welche ökonomischen und ethischen Fragen sich daraus ableiten – darüber hat man noch nicht einmal begonnen zu diskutieren.