Die Pressekonferenz, die am 5. Juni 2008 im noblen Luxemburger Hôtel Royal stattfand, war in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Ehe sie begann, erschienen drei Minister zu einem festlichen Empfang. Und vor dem Empfang wurden die Journalisten gebrieft, damit sie auf der Konferenz nach dem Empfang kluge Fragen stellen konnten. Imbiss und Getränke wurden gereicht, denn es war Mittagszeit. Ein ganzer Schwarm Wissenschaftler stand bereit, die Medienleute zu informieren, darunter Abteilungsleiter aus den drei Centres de recherche publics. Alle waren nervös, gestandene Wissenschaftler und Forschungsmanager, die sie waren. Denn gleich würden die drei Minister mit drei Gästen aus den USA feierlich eine Partnerschaft beschließen, die irgendwie auch all die Wissenschaftler betreffen sollte.
Später dann, auf dem Empfang, schienen die drei Minister ebenfalls nervös. Was vielleicht daran lag, dass sie mit Leland Hartwell, dem damaligen Chef des Krebsforschungszentrums der University of Washington in Seattle, einen Medizin-Nobelpreisträger zu Gast hatten. Und mit Leroy Hood, ebenfalls aus Seattle, den Pionier der automatisierten Genomsequenzierung. Die drei Minister François Biltgen, Jeannot Krecké und Mars Di Bartolomeo gaben sich Mühe, gutes Englisch zu sprechen. Aber jeder schien froh, wenn er wieder runter durfte vom Podium. Das geschah indem, wie das Sitte ist in Amerika, der nächste Redner beim Vornamen angesprochen und ihm hingeworfen wurde: „The floor is yours!“
Mit diesem Zeremoniell ging die Juncker-Asselborn-Regierung I den Pakt für Biomedizin und Biotech ein, der fünf Jahre dauern und mit 140 Millionen Euro aus der Staatskasse versehen sein sollte. Es hieß, die Partnerschaft konkretisiere einen Plan d’action technologies de santé der Regierung zur Diversifizierung der Volkswirtschaft in Richtung Biotechnologie. Doch diesen Aktionsplan hatte niemand gesehen. Auch heute ist kein solcher Plan öffentlich. Aber das störte damals weiter keinen. Dass die Regierung mal eben eine Ausgabe getätigt hatte, die hundert Millionen über der Schwelle lag, ab der das Parlament ein Gesetz verabschieden muss, störte ebenfalls weiter keinen. Abgesehen von der ADR, war die politische Klasse beeindruckt, dass eine Regierung sich aufraffte, eine Zukunftsentscheidung zu treffen. Die Wirtschaftselite war ebenfalls beeindruckt, aber nicht wenige Unternehmer fanden, das viele Geld wäre in bestehenden Branchen besser investiert als in den Aufbau einer ganz neuen.
Doch Jeannot Krecké, der Wirtschaftsminister, hatte sich entschieden. Ja, Luxemburg sollte sich ein Standbein in der Biotechnologie aufbauen, und ja, eines in der „roten Biotechnologie“, die mit der Humanmedizin in Verbindung steht. Aber, nein, nicht in Stammzellanwendungen, wie das nach der Jahrtausendwende das CRP-Santé immer wieder vorgeschlagen und damit schon die Aufmerksamkeit von Lebensschützern in den Reihen der katholischen Kirche und der CSV auf sich gezogen hatte, und auch nicht etwa in der Entwicklung aktiver Moleküle, weil man da „ganz schnell ganz viel Geld verbrennen“ kann. Sondern in der Diagnostik – auch da gebe es viel Innovationspotenzial. Die Masse an Daten aus Geninformationen, Proteininformationen, Stoffwechselprozessen beginne die Wissenschaft erst zu verstehen. Krecké schwebte vor – und davon überzeugte er auch seine Kabinettskollegen –, die Voraussetzungen für ein Ökosystem an Betrieben zu schaffen, die sich um ein paar ganz attraktive Einrichtungen gruppieren würden. In Phoenix hatte er so etwas gesehen: Dort war um ein Translational Genomics Research Institute ein solches Ökosystem entstanden. Quasi aus dem Nichts, auf dem dürren Boden und unter der heißen Sonne Arizonas.
TGen in Phoenix besuchte Krecké mehrfach. Und mit Pricewaterhousecoopers, die in Boston eine auf Biotech sepzialisierte Abteilung haben und in Luxemburg eine große Niederlassung, entstand der Plan, das Großherzogtum in der Nische der „personalisierten Medizin“ zu positionieren. Die war in den USA eben erst so richtig spruchreif geworden und Pricewaterhousecoopers hatten auch in Luxemburg schon über die „Phamakogenomik“ geschrieben: Dem richtigen Patienten zur richtigen Zeit das richtige Medikament verabreichen zu können, werde klappen, wenn man alle möglichen Informationen aus seinem Körper zu beziehen und auszuwerten vermöge.
Das Zentrum des Ökosystems sollte einerseits aus einer Biobank bestehen, die von Blut- über Gewebe- bis hin zu Genproben alles mögliche sammelt, lagert, aufbereitet und der Forschung zur Verfügung stellt. Andererseits aus einem neuen Forschungszentrum für Systembiologie an der Uni Luxemburg, in dem die Biologie mit Mathematik, Physik und IT zu einer kooperativen Wissenschaft konvergiert, die biologische Vorgänge mit mathematischen Prozessmodellen betrachtet. Beim Aufbau der Biobank sollte TGen aus Phoenix helfen, beim Aufbau des Systembiologie-Zentrums das Institute for Systems Biology in Seattle unter Genom-Sequenzierpionier Hood. Praktischer Nutzen für das Luxemburger Gesundheitswesen und ein Visibilitätsschub für das neue Luxemburger Standbein sollten aus einem Lungenkrebsprojekt kommen: Das CRP-Santé und ein Partnership for Personalized Medicine sollten Proteinmarker zur Früherkennung von Lungenkrebs entwickeln.
Mittlerweile ist die 2008 beschlossene Partnerschaft beendet, doch zum Abschluss gab es keinen Empfang mit „The floor is yours!“ und einer Pressekonferenz, auf der bilanziert worden wäre, was man erreicht hat. Warum eigentlich nicht?
Wissenschaftlich war der Ausfallschritt Richtung Biomedizin ein Erfolg. Obwohl er der Uni am Anfang nicht ganz geheuer war: „Geht das schief, machen wir uns gegenüber dem Ausland so lächerlich, dass wir Biomedizin und Biotech für die nächsten 30 Jahre vergessen können.“
Aber dann wurde Rudi Balling als Chef des neuen Systembiologie-Forschungszentrums rekrutiert. Balling ist nicht nur ein überaus wissendurstiger Forscher, sondern auch ein begnadeter Kommunikator, hat schon mehrere Forschungszentren aufgebaut und ist, weil er aus Daun in der Eifel stammt, schon fast Luxemburger. Balling setzte alles ein, was er an Kontakten hat, und mit dem vielen Geld vom Staat – knapp der Hälfte des Budgets für die Partnerschaft mit den USA – konnte er einerseits Top-Wissenschaftler aus der ganzen Welt nach Luxemburg ziehen, andererseits vom Partnerinstitut in Seattle Knowhow kaufen.
So konnte das Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB), wie es am Ende getauft wurde, obwohl es erst im September 2011 sein Domizil in Belval bezog, bis Ende vergangenen Jahres 127 Artikel in Wissenschaftszeitschriften veröffentlichen, elf Patente anmelden und zwei Firmen ausgründen. Mittlerweile hat es 190 Mitarbeiter und wird mit seinem Spezialgebiet Parkinson immer bekannter. Europäische Forschungskonsortien bieten ihm die Teilnahme an Projekten an. Im Auftrag der Michael J. Fox-Stiftung sucht es nach Verstärker- und Unterdrücker-Genen in erblich bedingtem Morbus Parkinson. Mit den US-amerikanischen National Institutes of Health ist das LCSB im Gespräch über die gemeinsame Verwaltung einer Datenbank, die alle genetischen Informationen enthalten würde, die bisher aus den Genomen von Parkinson-Patienten sequenziert worden sind. Damit macht Luxemburg sich international alles andere als lächerlich.
Verglichen mit dem Weg, den das LCSB ging, war der der Integrated Biobank of Luxembourg (IBBL) steiniger. Ein externer Evaluationsbericht an das Forschungsministerium vom Frühjahr dieses Jahres bescheinigt der unweit des CHL gelegenen IBBL, zu den besten Biobanken Europas zu zählen und im Qualitätsmanagement sogar die beste zu sein. Doch dahin gelangte sie auch trotz ihres Partners TGen: Das Institut aus Phoenix/Arizona erwies sich am Ende als sehr teuer und nicht imstande, alles zu liefern. Teile ihrer State-of-the-art-Software musste die IBBL sich selber organsieren. In Wissenschaftlerkreisen wird erzählt, hätte die Regierung sich an das auf Medizintechnologie spezialisierte Fraunhofer Institut im saarländischen St. Ingbert gewandt, hätte sie eine genauso gute Biobank für weniger Geld und weniger Ärger bekommen, und zu Verhandlungen hätte man im Auto fahren können.
Dass die Zusammenabeit mit den Amerikanern nicht gerade reibungslos verlief, war wohl der Hauptgrund, dass die Abschluss-Gala ausfiel. Fragte man Wirtschaftsministerium, weshalb die Kooperation mit US-Partnern erfolge, lautete die Entgegnung immer, sie seien nicht nur als Diensleister wichtig, sondern auch als Türöffner und als Aushängeschilder, wenn Luxemburg sich mit seinen Biotech-Ambitionen auf einer Road-show im Ausland präsentierte. Und eigentlich war die 140-Millionen-Euro-Initiative der damaligen Regierung – ausgegeben wurden am Ende an die 130 Millionen – ja eine wirtschaftliche gewesen.
Aber im Wirtschaftsministerium weiß man noch nicht genau einzuschätzen, was diese Partnerschaft gebracht hat. Das soll erst demnächst das Observatoire de la compétitivité anhand von Indikatoren klären, die für alle Hightech-Bereiche entwickelt werden, in die diversifiziert werden soll; auch für IT und Umwelttechnologien.
Klar ist aber, dass die Visionen vom bald schon entstehenden Biotech-Ökosystem, die Jeannot Krecké verbreitet hatte, sich bisher nicht erfüllten. Wahrscheinlich war das auch gar nicht möglich in der Kürze der Zeit. Die Biobank IBBL zum Beispiel, die vor sechs Jahren zum Epizentrum eines Clusters aus vielen Betrieben hochgeredet und hochgeschrieben worden war, hat Partner angezogen. Etwa die Genom-Analysefirma Wafergen, die in Belval eine Niederlassung gar nicht weit von der LCSB-Spin-off Luxfold unterhält, einer Firma zur Proteinanalyse. Ein Ökosystem ist das freilich noch nicht.
Aber dass er etwas ins Blaue hinein versprochen hätte, kann man Jeannot Krecké nicht unbedingt vorwerfen. Einerseits hatte die Regierung 2008 ihre Initiative auf sehr „amerikanische“ Weise verkauft und eine Menge versprochen. Vielleicht waren die drei Minister auch deshalb froh, wenn sie im Hôtel Royal wieder vom Podium durften. Andererseits konnte der damalige Wirtschaftsminister sich, was die Biobank betraf, auf den Businessplan stützen, den Pricewaterhousecoopers entworfen hatten. Der ging davon aus, dass die IBBL fünf Jahre nach ihrer Eröffnung über so viele eigene Einnahmen verfügen werde, dass sie unabhängig von staatlichen Zuschüssen bestehen könne. Heute allerdings nennt der Evaluationsbericht ans Forschungsministerium den Businessplan von damals „overly ambitious“. Obwohl die IBBL einen beachtlichen Kundenkreis hat, darunter große Forschungskonsortien, und Anfang des Jahres drei neue Verträge mit 20 Jahren Laufdauer abschließen konnte, schlägt das vergangene Woche von der Abgeordnetenkammer verabschiedete neue „CRP-Gesetz“ die IBBL dem CRP-Santé zu: als organisatorisch autonome Einheit und mit eigenem Budget, aber eben in erster Linie öffentlich finanziert.
Womit sich die Frage stellt, was werden soll aus Luxemburgs Biotech-Ambitionen. Über eine tolle Biobank und ein auch international gefragtes Biomedizin-Forschungsinsitut verfügt das Großherzogtum nun, aber was jetzt?
Wahrscheinlich muss man sich an den Gedanken gewöhnen, dass aus einer ganz neu aus dem Boden gestampfte Biomedizin-Forschung erst nach zehn, vielleicht gar nach 15 Jahren wirtschaftliche Resultate zu erwarten sind. In der Zwischenzeit dürften LCSB und IBBL in der klinischen Forschung gemeinsam mit Krankenhäusern noch aktiver werden. Immerhin ist in den letzten Jahren die klinische Forschung hierzulande enorm gewachsen. Das CRP-Santé verfügt seit sechs Jahren über ein Kompetenzzentrum für klinische Forschung, das dieses Jahr den 3 000. Luxemburger Patienten in eine klinische Studie vermittelte. Das ist so bemerkenswert, weil die klinische Forschung lange stark auf das CHL beschränkt war, da dort die Krankenhausärzte fest angestellt sind.
Dieses Jahr haben IBBL, LCSB und CRP-Santé im Rahmen ihres Konsortiums für personalisierte Medizin aus eigenen Mitteln einen kleinen Fonds aufgelegt. Er richtet sich an Ärzte aus sämtlichen Krankenhäusern, die sich mit einem speziellen Problem ihrer Patienten an einem klinischen Versuch beteiligen wollen. Der Call für Kandidaten ging vergangene Woche zu Ende; das Interesse war „riesig“, bilanziert die federführende IBBL.
Ausweiten wird die klinische Forschung sich auch, weil das LCSB seinen Fokus von Parkinson auf andere altersbedingte neurodegenerative Erkrankungen sowie Epilepsie ausgeweitet hat. Die IBBL wiederum soll eine große Rolle in der Krebsforschung spielen, die der von der Regierung im Sommer beschlossene Plan cancer vorsieht. Falls tatsächlich realisiert wird, was angedacht ist, dann würde in den nächsten Jahren dazu übergegangen, von Krebspatienten ein molecular profiling zu machen – eine Total-Sequenzierung ihres Genoms und die des betreffenden Tumors, und Letztere würde in Abständen immer wieder wieder wiederholt. Dass das schon durch einfache Blutproben geht, ist eines der Resultate aus dem Project Lung Cancer, dem dritten Vorhaben aus der luxemburgisch-amerikanischen Partnerschaft. Wenngleich die vielen neuen Daten nicht gleich die Kresbehandlung revolutionieren, wäre das molecular profiling eine Riesensache für die Forschung.
Inwiefern sich das wirtschaftlich niederschlägt, kann freilich niemand vorhersagen. Im Wirtschaftsministerium wird eingeräumt, die Bedingungen zur Ansiedlung junger Biotech-Firmen seien nicht unbedingt ideal. Wenigstens existiert mit dem privat finanzierten House of Biohealth in Esch/Alzette nun eine Infrastruktur, die als Inkubator für neue Betriebe dienen kann. Dass die erste von drei Ausbaustufen des Gebäudes zu einem kleinen Teil von drei schon lange bestehenden kleinen Firmen belegt wird, den größten Teil dagegen das unter Platzmangel leidende CRP-Santé gemietet hat, zeigt allerdings, dass Kandidaten für ein Biotech-Abenteur in Luxemburg nicht gerade Schlange stehen. Aber immerhin: Die zweite Ausbaustufe des Gebäudekomplexes könnte innerhalb von zwölf Monaten fertig werden, und damit wäre zumindest die Frage „Wohin?“, die trotz der luxemburgisch-amerikanischen Biotech-Initiative jahrelang im Raum stand, erst einmal aus der Welt.
Aber es stellen sich noch weitere Fragen. Etwa die nach der Finanzierung junger Firmen, oder die nach dem qualifizierten Personal und ob es ausreichend verfügbar wäre, wenn Luxemburg keine Medical School eröffnete. Aber auch die, ob die nationale Gesetzgebung auf Biotech angepasst ist und ob nicht eine große Ethikdebatte geführt werden müsste. Es gibt auch Biotech-Vordenker, die sagen, man sollte ganz beherzt eine Initiative zur personalisierten Medizin mit Big Pharma entwerfen und das über in Luxemburg ansässige Europa-Niederlassungen der Konzerne anschieben. Weil all dies schon aufgeschrieben wurde, als der bei der Innovationsagentur Luxinnovation angesiedelte BioHealth-Cluster vor drei Jahren ein Thesenpapier erstellte, die Thesen aber noch immer aktuell sind, kann man sich fragen, ob die vorige Regierung Biotech wirklich wollte und die jetzige es wirklich will. Man könnte darauf entgegnen, wenn die Regierung den IT-Sektor ausbauen will, und das möchte sie, komme sie kaum vorbei an der Biomedizin. Mit ihren großen Datenmassen ist sie vielleicht der größte Treiber von Big Data. Und vermutlich ergeben sich Wachstumschancen nicht zuzuletzt an dieser Schnittstelle. Vielleicht bedarf es nur einer geeigneten Strategie.