Die Geschichte der Menschheit handelt von Gerüchten, Verschwörungstheorien, Annahmen und Mutmaßungen. Eine – zumindest in der deutschen Hauptstadt sehr gängige – davon ist, dass es in der Delikatessenabteilung des legendären Kaufhauses des Westens alles, aber auch alles gibt. Heuschrecken, eingelegt. Elefantensteaks, wohl nur unter der Ladentheke. Gelbseitenkohlbratlinge, von denen noch kein Mensch je etwas gehört hat. Vor allen Dingen aber ganz sicherlich auch Spezialitäten und Genüsslichkeiten aus dem Großherzogtum Luxemburg, von jenseits der Mosel, also von ganz weit weg im Westen. Köstlichkeiten made in Luxembourg. Nicht nur Kniddelen und Maufelchen, nicht nur Crémant und Moutarde, sondern alles, aber auch alles was Gaumen und Herz begehren. Feierstengszalot als Convenience Produkt in der Tiefkühltheke, Bouneschlupp in der praktischen Einliterdose mit Dosierungshilfe, dazu einen rassigen Pinot Blanc vom Remicher Goldberg oder ein kühles Ourdaller Wäissen. Alles made in Luxembourg. Alles made mit Liebe. Und alles mit viel Herz.
Neben der Großstadtsage ist es eine Tradition unter alten West-Berlinern sich Freitagsabends in der Delikatessabteilung des KaDeWe zu treffen, um die Woche zu beenden. Man hat seinen Stammplatz an den unzähligen Tresen für Flussfisch, Hochseefisch, Seefisch, Tiefseefisch, Havelfisch oder anderen Teichwaren, korrespondiert mit dem kundigen Küchenpersonal über die Erfolge und Niederlagen der zu Ende gehenden Woche, bevor dieses den passenden Wein zum gewählten Hauptgericht kredenzt. In genau einer solchen Szenerie muss es ein Leichtes sein, einen luxemburgischen Abend zu bestreiten. Ein kulinarisches Wochenende made in Luxembourg.
Zunächst die Maufelchen. Als Klassiker und Einstieg in den entspannten Freitagabend. Wursttheke. Fleischabteilung. Eifriges Personal, das gerne berät und aufdringlich alles Wissenswerte zum Kühlthekenangebot über den Tresen reicht. Hier liegen neben vielen anderen Pasteten und Terrinen die Maufelchen, Rieslingspaschtéit aus Luxemburg. „Pardon“, berichtet die Verkaufskraft, „aus Frankreich“. Sie hebt den Zeigefinger und weist auf das über der Theke thronende Schild: „Frankreich“. Steht dort. In übergroßen Lettern. Auf gleich drei Schildern. Damit man weiß, hier werden französische Spezialitäten angeboten. Eigentlich wird die angebotene Rieslingspastete im Spezialitätenrestaurant von Luc Wolff, Leonhardstraße, Berlin-Charlottenburg, jeden Tag frisch für das KaDeWe zubereitet. Eigentlich. Uneigentlich kommen sie heute allerdings aus Frankreich, wie das Deckenschild eindringlich mahnt. Nochmals die Nachfrage zur Heimatermittlung des Backwerks. Die Verkäuferin stemmt ihre Arme in die Hüften. Sie wird ungeduldig. Diskussion und Herkunftsbestimmungen der angebotenen Produkte sind nicht ihr Ding. „Da oben steht Frankreich und wir haben hier nur französische Delikatessen. Da drüben ist übrigens Italien.“ Das Thekeneingangsschild zur Positionsbestimmung und Grenzziehungsdebatte. Ein letzter Versuch: „Haben Sie Fierkelsjhelli?“ Der Blick der frankophilen Fleischthekenbesatzung macht deutlich, dass nun ein Kauf getätigt werden sollte, um der deutsch-luxemburgischen Freundschaft und der deutsch-französischen Gaumenfreuden Willen nicht im Desaster enden zu lassen. „Können die Maufelchen zum direkten Verzehr erworben werden?“ „Nein.“ „Wenn ich an einem der Speisentresen einen Teller besorgte, …?“ „Nein.“ „Und einfach…“ „Nein.“
Auf so viel Ernüchterung braucht es ein Glas Crémant. Kein anderes Land ist so sehr für seine Crémants bekannt wie Luxemburg. Man sagt, er sei vor einem Vierteljahrhundert dort erfunden worden. Es prickelt, perlt und schäumt in schier allen Weinbergen des Großherzogtums. Wormer, Réimech, Gréiwemaacher. Perlen des Perlweins. Kleinodien der Prickelbrause. Zum Glück gibt es keine Geographiestreitigkeiten im Sektregal, wenn auch hier ordentlich unterschieden wird. Die Welt des Schaumweins ist unterteilt in Deutschland, Frankreich, Rest der Welt. Das macht die Sache einfacher. Gelernt ist, dass das Großherzogtum in diesem Konsumtempel gerne Frankreich zu geschlagen wird, doch dort gibt es ausschließlich Champagner. Also zurück in das Allerwelts-Angebot. Zwischen einem australischen „Sparkling Merlot“ und einem Perelada aus Spanien finden sich drei Flaschen Cuvée Atoinette, Crémant de Luxembourg, von den Domaines Vinsmoselle. Lauwarm. Preisreduziert. Nicht zum Entkorken an Ort und Stelle geeignet. Doch in der weiten Welt der Weinabteilung ist das Verkaufspersonal sinnesfreudiger: Man würde zu gerne die Flasche auf Eis legen, doch schließe das Kaufhaus in einer Dreiviertelstunde, was sicherlich nicht ausreiche, um für ausreichend Kälte zu sorgen und man solle am nächsten Tag vorbeischauen, dann rechtzeitig vor dem Einkauf eine Flasche kühlen lassen. Ein Seufzen huscht durch die Trinkhalle der Dekadenz. Eine Flasche Sparkling Merlot kann bestimmt auch beim Raumtemperatur entkorkt werden. Achselzucken. Ratlosigkeit. Rückbesinnung auf den eigenen Kiez, fünf U-Bahn-Stationen südlich, wo selbst der Supermarkt um die Ecke luxemburgischen Schaumwein, pardon, Crémant gut sortiert und gut gekühlt im Angebot hat. Man kann dort sogar zwischen goldenem und schwarzem Etikett wählen. Welch ein Überfluss.
Crémant und Berlin. Das kann gar nicht funktionieren. In der Stadt braucht es ein Bier, mit dem man durch die Straßen schlendert, U-Bahn fährt, in der Schlange vor dem Reichstagsgebäude steht. Sternburg, das günstige, bekannte, gern getrunkene Kiosk-Bier, ist allerhöchsten ein Zitat für den abgewetzten Alltag, denn ein Trank für Fernwehaspiranten. Wer Zeichen setzen möchte, darf auch gerne luxemburgischen Gerstensaft durch die Hochhausschluchten tragen. Und trinken. Sicherlich hat das KaDeWe entsprechende Offerten. Zugegeben, die Bier-Abteilung ist überraschend klein und übersichtlich, ein wenig bunt. In den Regalen sogar eintönig, wenn auch exotisch, siebzehn russische Bierflaschen kaschieren die Leere dahinter. Nur: Luxemburgisches Bier ist nicht zu finden. Der Verkaufsberater: „Wir hatten dies für eine Sonderaktion irgendwann einmal. Ging nicht. Haben wir wieder aus dem Sortiment genommen. Hat keinen interessiert.“ Harte Worte. Am Freitagabend. „Aber wir haben ein gutes griechisches Bier.“ „Senf! Wo gibt es hier denn guten Senf?“ „Gerade durch, dann links. Bei Essig und Öl!“ „Senf aus Luxemburg?“ „Ich befürchte“, sagt die Senffachverkäuferin, „dass ich Sie enttäuschen muss. Sie können in ein Delikatessengeschäft in der Leonhardstraße fahren, dort gibt es fast ausschließlich luxemburgische Produkte.“ Was sättigt Made in Luxembourg und „Sou schmaacht Lëtzebuerg“, wenn leere Regale den Kochtopf nicht füllen? Luxemburg weiß wie Luxemburg schmeckt und Berlinern bleiben nur Maufelchen, die ihre Heimat leugnen müssen und eine Flasche lauwarmen Perlweins, wenn die Woche am Treffpunkt des Weltschmerzes zu Ende geht. Aus Enttäuschung dann doch ein Glas, irgendein Glas Crémant. Tun wir so, als ob. „Entschuldigung. Das sind unsere Stammplätze. Wir sitzen jeden Freitagabend hier.“ Sich nach luxemburgischen Produkten im KaDeWes zu erkunden, leistet bestimmt der Gentrifizierung der Feinschmeckerabteilung Vorschub. Die Stadt kann einfach nicht aus ihrer Haut. Das Großherzogtum auch nicht.
Auf dem Weg nach Hause dann der Späti, das Grundgourmetgerüst der deutschen Hauptstadt. Rund um die Uhr ist das im Angebot, was der jeweilige Betreiber zum Wichtigsten und Nötigsten in der Nahversorgung deklariert. Dort stehen sie. Im Kühlschrank ganz an den Rand geschoben, bedrängt vom Überangebot der Massenware. Zwei weiße Flaschen. Mit einem roten Löwen. So schmeckt Luxemburg. Vier Euro verlangt der Bartender der Freitagnacht. Vier Euro. Pro Flasche. Egal. Es ist Luxemburg. Es ist Made in Luxembourg. Es war haltbar bis zum 23. September 2017.