Das Erziehungsministerium hat die Éducation précoce evaluieren lassen. Doch Kernfragen zur staatlichen Früherziehung beantwortet die Studie nicht

Geht spielen, Kinder!

d'Lëtzebuerger Land vom 13.11.2015

Manchmal wundert man sich. Seit Jahren sagen Politiker, verlässliche Aussagen zur Frühförderung, auch zur sprachlichen, seien erst möglich, wenn die 1998 als Pilotpojekt beschlossene freiwillige Éducation précoce evaluiert würde. Schließlich war die Précoce von der damaligen CSV-LSAP-Regierung eingeführt worden, um Dreijährige an die luxemburgische Sprache heranführen. Dadurch, so die Hoffnung, wären die Kinder besser für die anschließende Alphabetisierung in Deutsch in der Grundschule gerüstet.

Ob die Politiker nun klüger sind? Am Mittwoch stellte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) die bei der Universität Luxemburg in Auftrag gegebene Evaluation vor. Wichtigste Erkenntnis laut Entwicklungspsychologe und Studienleiter Dieter Ferring: Eltern, Lehrer, Erzieher, Inspektoren, Gemeindevertreter – sie alle finden die Éducation précoce gut und wichtig und sind mit dem Angebot weitgehend zufrieden. Außerdem seien sich sämtliche Akteure einig, die kostenlose staatliche Früherziehung habe nicht nur den Anspruch, Kindern ganz unterschiedlicher Herkunft Luxemburgisch beizubringen – sie sei darin auch ziemlich erfolgreich, unterstrich Minister Meisch.

Im Schuljahr 2013/2014 besuchten über 4 200 Kinder im ganzen Land Früherziehungsklassen, davon hatten 56 Prozent die luxemburgische Staatsangehörigkeit, 21 Prozent waren Portugiesen und sechs Prozent hatten einen französischen Pass. Insgesamt befinden sich fast hundert Nationalitäten in Précoce-Gruppen. Trotz der leichten Überzahl der Luxemburger Kinder, haben aber nur 38 Prozent der Kinder Luxemburgisch als Erstsprache, 26 Prozent sprechen Portugiesisch und 15 Prozent Französisch. Weitere Erstsprachen sind Bosnisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Kreolisch, Montenegrinisch, Serbisch, Spanisch oder Chinesisch.

Wie gut nun diese Kinder Luxemburgisch lernen und welche Ansätze dabei am erfolgreichsten sind, darüber sagt die Studie nichts aus: Sprachtests wurden nämlich nicht vorgenommen und auch die Methoden des Spracherwerbs wurden von den Wissenschaftlern nicht untersucht. Dasselbe gilt auch für die pädagogischen Ansätze in der Précoce. Auf Nachfrage sagte Meisch lediglich, man wolle keine „verschulte“ Früherziehung, darum sehe der Rahmenplan für die Früherziehung keine Mindestkompetenzen vor.

Das bedeutet aber, dass die lang erwartete Evaluation, die neben einigen allgemeinen Statistiken weitgehend auf nicht-repräsentativen Befragungen per Fragebögen von rund 240 Lehrern und Erziehern, sowie rund 700 Eltern und Gesprächen mit so genannten Fokusgruppen beruht, entscheidende Fragen gar nicht objektiv klärenkann: Ob die Éducation précoce nämlich ihre Bildungs- und Erziehungsziele tatsächlich erreicht, Kinder an das Luxemburgische heranzuführen, ihre Eigenständigkeit zu stärken, sie in ihrer Entwicklung optimal zu unterstützen. Auch eine Antwort auf die Frage, die der grüne Bildungspolitiker Claude Adam einst stellte, ob Kinder, die die Précoce besuchen, Entwicklungsvorteile – und welche genau – gegenüber Kindern haben, deren Eltern sie nicht dorthin schicken, die vielleicht aber daheim die Erstsprache üben, erlaubt die Untersuchung nicht. Trotzdem war Dieter Ferring sich ganz sicher, dass gerade für Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien, in denen kein Luxemburgisch gesprochen wird, die Précoce ein Gewinn sei.

Dasselbe gilt für die oft behauptete Brückenfunktion des Luxemburgischen: Ob in Précoce und Spillschoul erworbene Grundkenntnisse in Luxemburgisch wirklich bei der Alphabetisierung in Deutsch helfen, auch wenn diese nur als Zweitsprache erlernt werden und rudimentär bleiben, untersucht die Studie nicht, die das Ministerium rund 12 750 Euro gekostet hat (Personalkosten von Uni und Ministerium nicht eingerechnet). Die drei Werbevideos, mit denen Meisch kürzlich seine Arbeit bewarb, kosteten 40 000 Euro.

Nicht einmal zum sozio-ökonomischen Hintergrund der Précoce-Kinder und ihren Familien gibt es Details. Fest steht: Die Früherziehung wird von über 63 Prozent der berechtigten Kinder in Anspruch genommen, von 36,5 Prozent aber nicht. Welche Eltern ihre Kinder in Précoce-Klassen schicken, ob es eher Eltern mit höherem oder mit niedrigerem Einkommen sind, ob sie eher in der Stadt wohnen oder auf dem Land, sagt die Studie nicht. Allerdings ist die Auslastung morgens mit durchschnittlich 86 Prozent Kindern, die Montag-, Mittwoch- und Freitagmorgen die staatliche Früherziehung besuchen, höher als am Nachmittag. Das bedeutet aber nicht, dass jedes dritte Kind in Luxemburg nicht gefördert wird; vielleicht haben seine Eltern es lieber in einer Crèche untergebracht, weil die dortigen Öffnungs- und Präsenzzeiten flexibler sind, das Programm weniger verschult ist und die Kinder zudem in den Ferien betreut werden. Die CSV-Abgeordnete Martine Hansen monierte nach der Vorstellung der Untersuchung in der Abgeordnetenkammer, dass unklar bleibe, was mit diesen Kindern geschehe. Welche Gemeinden bessere Zeit-Regimes anbieten und ob sich eine engere Vernetzung zwischen Schule und Maison relais auf die Besucherfrequenz auswirken – auch darüber ist nichts zu erfahren; eine Aufschlüsselung nach Region und Arbeitsweise wurde nicht vorgenommen.

Gefragt, warum sie ihr Kind nicht in die Précoce schicken, nannten die rund 240 befragten Eltern zeitliche Abstimmungsprobleme zwischen Arbeit und Précoce sowie fehlende Betreuungsmöglichkeiten außerhalb der Öffnungszeiten als Gründe. Nicht jede Gemeinde bietet die Éducation précoce über die ganze Woche an. Andere Gründe für die Zurückhaltung von Eltern sind etwa die ungünstige Lage der Einrichtung oder der Wunsch nach Kontinuität in der Betreuung. Das ist ein reelles Problem: Auch wenn immer mehr Maisons relais und Schulen räumlich zusammenrücken, zunehmend sogar auf demselben Gelände gebaut werden, gibt es viele Ortschaften, wo Kinder für die Précoce in ein anderes Gebäude wechseln müssen. Die Kinder kämen kaum aus ihren Jacken heraus, beschreibt Psychologe Dieter Ferring die Belastung, die mit dem Wechsel für die Kleinen oft einhergeht.

Räumliche Nähe bedeutet nicht, dass sich Lehrer und Erzieher inhaltlich abstimmen. Es gibt einen Rahmenbildungsplan, der aber eher Lernziele betont und spielerische Entwicklungsansätze ignoriert. Wie die Einrichtungen den Plan umsetzen, was sie für pädagogisch-methodische Schwerpunkte setzen, haben die Forscher nicht untersucht. Befragte Lehrer und Erzieher betonten die Wichtigkeit einer kindgerechten und bedürfnisorientierten Vorgehensweise, die die Erziehung zu Sauberkeit und zur Autonomie umfassen sowie die soziale, motorische, affektive, kognitive und sprachliche Entwicklung fördern soll. Doch wie gut diese Ziele umgesetzt werden, bleibt unklar – eine objektive Qualitätsbewertung ist nicht möglich. Dass nicht immer alles nach Plan oder Wunsch läuft, deutet sich in den Antworten an:

Sowohl Lehrer als auch Erzieher beschreiben die Zusammenarbeit zwischen Maison relais und Éducation précoce zwar als Gewinn, doch in vertiefenden Gesprächen wurde deutlich, dass sie für manche eine ziemliche Herausforderung darstellt. Ursächlich werden unterschiedliche Bezahlungen, Aufgaben und Arbeits- und Ferienzeiten von Erziehern und Lehrern angegeben, die innerhalb eines Teams zu Schwierigkeiten und Konflikten führen könnten. Die Organisation ist aber nicht das einzige Problem: Auch inhaltlich gibt es Differenzen, die eine bessere Abstimmung oder Vernetzung erschweren.

Erst kürzlich scheiterte eine von einer Gemeindeführung angeregte Verzahnung von Précoce und Maison relais, obwohl alle Beteiligten zunächst offen schienen und eine solche Zusammenarbeit im Nachbarort bereits funktioniert. Doch während die Erzieher den spielerischen Zugang zum Lernen betonten und die Räume entsprechend ausrichten wollten, unterstrich das Précoce-Lehrpersonal den Bildungsauftrag. Dabei ist die zu starke schulische Orientierung der Précoce offenbar ein Grund, warum Eltern ihr Kind lieber in den Kindergarten schicken, nach dem Motto: Schul- und Leistungsstress kommen früh genug. Auch der Minister mahnte, es sei wichtig es, Dreijährige „spielerisch“ zu fördern und überlegt, den Rahmenbildungsplan in diesem Punkt zu überarbeiten. Der Gesetzgeber hat den Konflikt selbst programmiert: Als er die Précoce als Teil der Schule definierte und das Précoce-und Spillschoul-Lehrpersonal wie Grundschullehrer einstufte.

Manche Aussagen des Ministers helfen nicht unbedingt, solchen Konflikten die Spitze zu nehmen: Je stärker er die sprachliche Frühförderung betont, er Französisch- und Luxemburgisch-Kenntnisse quasi ab der Spillschoul fordert, sowie sich für eine diesbzeügliche Didaktik einsetzt, umso eher kann dies als Aufforderung missverstanden werden, schon Dreijährige zu unterrichten. Ob die Précoce-Gruppen im Land ihre Lernangebote eher schulisch ausrichten oder spielerisch, darüber ist in der Studie nichts Näheres zu erfahren.

So dass man sich am Ende fragt, was die Übung eigentlich soll, wenn Kernfragen nicht beantwortet werden. Déi Gréng, die die Frühförderung unterstützen, hätten diese lieber im Rahmen der Kindergärten gesehen als in der Schule, gerade um Lerndruck gar nicht erst entstehen zu lassen. Davon ist heute nichts zu hören. Dabei stellt sich die Frage weiterhin. Ebenso wie unklar bleibt, wie der Übergang von der Früherziehung in die Grundschule aus der Perspektive der Sprachförderung am besten zu gestalten ist. Man werde die Ergebnisse erst „analysieren“, bevor man Konsequenzen ziehe, sagte Claude Meisch. Eins steht fest: Argumente für größeren inhaltlichen Änderungsbedarf oder gar wissenschaftliche Belege für eine andere sprachliche Frühförderung liefert diese Evalua-tion nicht. Aber vielleicht ist das ja gewollt.

Die Studie kann unter www.men.public.lu/catalogue-publications/fondamental/statistiques-analyses/autres-themes/education-precoce/ed-prec.pdf eingesehen werden
Ines Kurschat
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