Der Lernprozess rund um Sprachen habe sie früh fasziniert, sagt Claudine Kirsch, Pädagogikprofessorin und Vizedirektorin des Bachelor-Studiengangs Erziehungswissenschaften. Sie war neun Jahre lang Lehrerin an einer Luxemburger Grundschule, ehe sie nach England ging, um ihre Doktorarbeit zu schreiben und „besser zu verstehen, wie Kinder mehrere Sprachen lernen“. Als Kirsch neun Jahre später zurück nach Luxemburg kam, das war 2012, war sie verheiratet, hatte zwei Kinder – und viel mehrsprachige Erfahrung im Gepäck: In London hatte sie einen Studiengang für Fremdsprachenunterricht für Post-Graduates aufgebaut.
„Ich nähere mich der Mehrsprachigkeit aus den drei Perspektiven: als Lehrerin, als Forscherin und als Mutter, deren im Ausland geborene Kinder in Luxemburg zur Schule gehen“, erzählt Kirsch. Um mehrsprachiges Lernen von Sprache geht es auch bei I-Teo, ein informatikgestüttzes Forschungsprojekt am Institut für Angewandte Erziehungswissenschaften (AES), das Kirsch gemeinsam mit ihrem Kollegen Germain Gretsch betreut. Kirsch teilt sich die Leitung des AES mit Christina Siry, ebenfalls Erziehungswissenschaftlerin. Das I steht für Informationstechnologie, die anderen Buchstaben für Oral-Text-Editor. Mit der I-Pad App können Kinder Laute, Wörter oder ganze Sätze aufzeichnen und verändern. Dabei spielt die App die Aufnahme automatisch wieder ab, sie hören also, was sie wie sagen. „Die Kinder lernen Luxemburgisch durchs Zuhören, indem sie Wörter nachplappern“, erklärt Kirsch. „Sprache ist viel mehr als das Lernen von Wörtern und Regeln. Es ist ein Prozess, der abhängig ist von sozialen und kulturellen Kontexten, von persönlichen Faktoren. Auch Kinder, die daheim kein Luxemburgisch sprechen, bringen vielfältige sprachliche Ressourcen mit“, betont sie. Kinder lernen Sprachen von klein auf in der Interaktion. Sie setzen Sprachen unterschiedlich ein, je nach Kontext. Im Kindergarten und in der Schule greifen sie mal auf die Muttersprache zurück, mal auf die (neu) zu lernende Zweit- oder Drittsprache Luxemburgisch oder Deutsch. Sie mixen Wörter oder Sätze. „Schon Vorschulkinder haben erstaunliche sprachliche Kompetenzen“, begeistert sich Kirsch. „Man muss ihnen nur den Raum geben.“
Für ihre ethnografische I-Teo-Studie hat die Erziehungswissenschaftlerin zwei Vorklassen im Südosten des Landes beobachtet, zwei Drittel der Klasse waren portugiesischer, holländischer französischer, albanischer Abstammung. Angeleitet von den Lehrern, wurden die Kinder ans Luxemburgische herangeführt: spielerisch und ohne Druck. Weil die App es erlaubt, Ideen und Produktionen der Kinder aufzugreifen und zu verändern, gibt sie einen guten Einblick in deren sprachliche Entwicklung. I-Teo funktioniert im Kindergarten, wenn die Kinder noch keine zusammenhängenden Geschichten erzählen, geradeso wie in Spillschoul und Grundschule. Kinder können mit der App fotografieren und um das Bild Geschichten entwickeln. Storying heißt das im Fachjargon. Nötig sind ein geschützter Raum, in dem die Kinder ungestört arbeiten können – und immer wieder konstruktives Feedback.
„Es ist wichtig, dass die Kinder eine Rückmeldung zu ihren Geschichten oder Liedern bekommen“, unterstreicht Kirsch. Zuhören, Unterstützen – das sind Schlüsselqualifikationen im Umgang mit I-Teo. Ein spezielles Sprachtraining für die Kinder gibt es nicht, und dennoch berichten jene Lehrer, die die App an ihren Vorschulkindern getestet haben, von deutlichen Lernfortschritten gerade bei Kindern, die zuvor kein Luxemburgisch gesprochen haben. Die Studie läuft noch bis 2016. Die Anwendung ist nicht auf das Luxemburgische oder den Klassenraum begrenzt: In Schreibwerkstätten fordert Kirsch Studenten im Praktikum auf, ihren Schülern die App mit nach Hause zu geben. „So lernen die Studenten, wie reichhaltig der sprachliche Hintergrund unserer Kinder ist.“ Auf Fotos werden Bücher oder Filme von daheim festgehalten und dokumentiert, mit Einverständnis der Betroffenen. Von der Oma, die eine Geschichte auf Portugiesisch vorliest, bis zum Vater, der mit der Mutter Französisch spricht – die sprachliche Herkunft der Kinder ist so vielfältig und unterschiedlich wie es die Kinder im Klassenraum sind.
Auch Kirschs nächstes Forschungsprojekt handlt um die Heterogenität der Kinder: Sie will untersuchen, wie die Mündlichkeit im non-formalen (Kindergarten) und im formalen (Schule) Rahmen, besser gefördert werden kann. In einer dreimonatigen Fortbildung bekommen Erzieher und Lehrer Basiswissen und Methodentraining rund ums Thema Mehrsprachigkeit vermittelt. „Sprache ist nichts Lineares, sondern etwas Komplexes, das je nach Situation und Kontext variert“, betont Kirsch. „Wenn unsere Lehrer das verstehen, haben wir viel gewonnen.“