Der Zufall spielte auch eine kleine Rolle, dass Entwicklungspsychologin Sonja Ugen heute zu Sprachenlernen und Mathematik forscht. „Ich hatte eine Mitarbeiterin, die zur numerischen Kognition forschte. In Diskussionen mit ihr wurde mir bewusst, wie wichtig Sprache als Voraussetzung für Rechnen ist“, erinnert sich Ugen. Das war 2008, Ugen war nach ihrem Psychologiestudium nach Brüssel gekommen, um ihre Dissertation zu schreiben. Ursprünglich wollte sie zu kognitive Lernstörungen in mehrsprachigen Kontexten forschen. Weil aber in Luxemburg die Diagnostik der Dyslexie unterentwickelt war, ließ sie die Finger davon.
Nach ihrer Doktorarbeit ging es zurück in die Heimat an die Uni Luxemburg: Am Luxembourg center for educational testing (Lucet) untersuchte Ugen im Rahmen des Langnum-Projektes (Language and numbers), inwieweit sich Sprachkompetenzen auf die Rechenleistungen von zweisprachig aufgewachsenen Schülern auswirken. „Studien mit einsprachig aufgewachsenen Kindern belegen, wie wichtig Sprachkompetenzen sind, um numerische Probleme zu lösen“, erklärt Ugen. Um zu erforschen, wie dies bei zweisprachigen Kindern ist, testete sie 140 zweisprachige Classique-Schüler (die zuhause Luxemburgisch sprechen) der 7e, 6e 4e und 3e im Rechnen. Auf der 7e wird der Mathematikunterricht von Deutsch auf Französisch umgestellt. Die Jungen und Mädchen sollten einfache Rechenaufgaben lösen, die sie selbst lesen mussten oder die sie über Kopfhörer vorgespielt bekamen, und bewerten, welche Zahlen größer sind, sowie einfache Additionen durchführen. Allerdings manipulierten die Forscher die Zahlen so, dass mal der Zehner und mal der Einser größer war. Denn während im Französischen die Zehner sprachlich betont wird, werden im Deutschen die Einser zuerst gesprochen. „Die Überlegung war, über die Art der Fehler den Impakt, den eine Erst-, respektive ein Zweitsprache auf das Rechnen haben, zu messen.“
Die Forscher maßen, wie schnell und wie akkurat die Schüler die Aufgaben jeweils auf Deutsch und Französisch lösten. Wurden die Zahlen gelesen, waren die Reaktionszeiten am besten für jene Zahlen, wo die Zehnerziffer größer als die Einserziffer war, unabhängig von der Sprache. Wurden sie mündlich vorgelesen, variierten die Reaktionszeiten von der einen zur anderen Sprache, die Schüler hatten offensichtlich Schwierigkeiten mit der unterschiedlichen Zehner-Einser-Zählweise. Grundsätzlich waren die Schüler schneller auf Deutsch und machten dort weniger Fehler. Je komplexer die Rechenaufgaben wurden, desto höher war auch die Fehlerquote im Französischen. „Es scheint, dass die Sprache, in der sie zu zählen gelernt haben, eine wichtige Rolle bei ihren Rechenleistungen spielt“, erklärt Sonja Ugen.
Hatten die Schüler vor einer Rechenaufgabe jedoch eine Frage auf Französisch zu beantworten, verbesserten sich ihre Matheleistungen. „Das spricht dafür, dass eine gewisse Konstanz in der Sprache den Schülern das Rechnen erleichtert“, so Ugen. Das Wechseln im Matheunterricht von Französisch auf Luxemburgisch, von Lehrern als Hilfestellung gedacht, um eine Rechenaufgabe für alle verständlich zu erklären, könnte demnach kontraproduktiv sein.
Doch die Frage stellt sich angesichts der Studienergebnisse, ob es sich überhaupt lohnt, die Sprache in der Mathematik zu wechseln. „Wir haben in einem zweiten Schritt auch romanophone Kindern getestet und die Ergebnisse waren ähnlich“, gibt Ugen zu bedenken. Demnächst soll sie ihre Ergebnisse im Bildungsministerium vorstellen. Ugen hofft, dass die Experten dort ihre Studie im Hinblick auf eine mögliche Alphabetisierung auf Französisch genau analysieren. „So ein Schritt will gut überlegt sein. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass es für Rechenkompetenzen entscheidend ist, in welcher Sprache ein Kind zählen lernt“, warnt sie.
Das Lycée in Grevenmacher bietet derzeit Mathematik auf Deutsch auf der 7e an. Wenn die hochschwangere Ugen zurück aus dem Mutterschaftsurlaub kommt, hofft sie, den landesweiten einmaligen Modellversuch analysieren zu können. „Es wird spannend sein, zu sehen, wie die Schüler in Grevenmacher in Mathe abschneiden im Vergleich zu ihren Kollegen an anderen Schulen, die auf Französisch umstellen müssen“, sagt Ugen. Ursprünglich sollte Mathe auf Deutsch auf beiden Schulzweigen, Technique und Classique, angeboten werden, aber das Ministerium hat das Projekt nur für den Technique genehmigt. „Das ist schade, weil auch Classique-Schüler davon profitieren könnten“, ist sich Ugen sicher.