Das Klassenzimmer in der Escher Delhéicht-Grundschule liegt unterm Dach. Die Decke ist niedrig, die hellgrün gestrichenen Wände hängen voller Texte, Fotos und Zeichnungen, all das verleiht dem Raum etwas Heimeliges. Sechzehn Schülerinnen und Schüler aus dem Zyklus 4.1, wie seit der Grundschulreform die fünfte Klasse heißt, lassen sich an den Vierertischen nieder. An diesem Freitagvormittag sind die Kinder unruhiger als sonst – sagt die Lehrerin. Draußen herrscht partielle Sonnenfinsternis und die Delhéicht-Schule hat ihre Schüler in der Pause vorsichtshalber lieber nicht ins Freie gelassen. Doch im Computerraum nebenan kann das Naturschauspiel im Streaming von einer Web-Kamera her erlebt werden. Von dort kommen die meisten Fünftklässler gerade.
Trotzdem klappt der Übergang in den Französischunterricht reibungslos. Die Lehrerin heißt Angélique Quintus, mag Mitte zwanzig sein und gibt das Unterrichtsziel der Stunde bekannt: Um „verbes pronominaux“ gehe es heute. Zunächst werde man gemeinsam klären, was das ist. Danach werde „verglichen“, anschließend ein Text geschrieben, den die Schüler zum Schluss zu präsentieren hätten. Und ab jetzt, ordnet die Lehrererin an, werde nur noch französisch gesprochen. Alles klar?
Die Schüler nicken, manche tuscheln oder äugen verstohlen zu dem Gast von der Presse, der unter ihnen sitzt. Seit Beginn des Schuljahrs wird an der Delhéicht-Schule eine besondere Form der „durchgängigen Sprachenförderung“ praktiziert. Das Konzept stammt von der Pädagogischen Hochschule Freiburg in Deutschland, wurde von der Universität Luxemburg aufgegriffen und wird über das Bildungsministerium in Weiterbildungslehrgängen angeboten. An der Delhéicht-Schule sind seit der Rentrée im vergangenen Jahr von der Spillschoul bis zum Zyklus 4.2 alle Klassenstufen danach ausgerichtet.
„Verbes pronominaux“ – ganz unbekannt sind sie den Schülern nicht. Als Quintus fragt: „Qu’est-ce que c’est?“ gehen ein paar Hände nach oben. Verben mit „se“ seien das, meint ein Schüler. „Hmmm“ macht die Lehrerin, wiegt den Kopf und nickt auffordernd in die Runde. „Et avec me et te …!“, ruft ein Mädchen. „Ça suffit?“, fragt Quintus mit einem Unterton, der keinen Zweifel daran lässt, dass das noch nicht alles sein kann. „On les utilise dans une phrase“, erklärt ein Schüler, fragt: „Kann een dat och op Lëtzebuergesch soen?“, und fährt fort: „Kann ee soen, Alex se lave, kann een awer och froen, Qui est lavé?“ Das sei nicht dasselbe, findet er. Je mange sei ja auch nicht dasselbe wie Je me mange. „Do iessen ech mech selwer!“ Die Mitschüler brechen in Gelächter aus. Sich selber zu essen, das muss man sich mal vorstellen.
Die Lehrerin lacht mit und erläutert: Man könne jedes Verb mit einem „se“ versehen, aber wie man gerade erleben konnte, ergebe das nicht immer den richtigen Sinn. Dann lässt sie sich zu jedem Personalpronomen in Einzahl und Mehrzahl das richtige Reflexivpronomen diktieren, schreibt das grammatische System an die Tafel und fragt: „A wéi seet een dat op Portugiesesch? An op Serbokroatesch?“
Da werden die Schüler munter und fremdländische Ausdrücke fliegen durch den Raum. Das ist nicht nur eine Abwechslung vom Französischen. Gleich anschließend werden Sätze mit verbes pronominaux in die verneinte Form gebracht und festgestellt, dass eine Verneinung sowohl im Luxemburgischen wie im Deutschen als auch im Portugiesischen und im Serbokroatischen mit einem einzigen Ausdruck für nicht gebildet wird, und nur im Französischen mit den beiden Wörtern ne pas. „Deshalb müsst ihr in einem französischen Satz beide benutzen, pas alleine reicht nicht!“
Im Sprachenunterricht Beispiele zu nutzen, die die Schüler anbringen, ist an der Escher Schule ebenso Teil des neuen Systems wie die vielen Herkunftssprachen der Kinder aufzugreifen, um Vergleiche in Vokabular, Satzbau und Grammatik anzustellen. „Wir holen die Schüler dort ab, wo sie sind“, erklärt Angélique Quintus, während die Klasse nach weiteren verbes pronominaux sucht und sie in Beispielsätze schreibt. Die Delhéicht-Schule gehe mit der durchgängigen Sprachenförderung noch ein Stück weiter als das Ministerium empfiehlt: „Wir haben uns gefragt: Wie lernen Schüler Sprachen? Wir fordern immer wieder ihre Kreativität heraus. Sie sollen lesen, schreiben, hören und verstehen; wir helfen ihnen aber auch beim Konzeptualisieren, damit sie lernen, Sinn zu bilden.“
Was durchaus mit Aufwand verbunden ist. Schon früher, berichtet Quintus, hätten Schüler der höheren Klassen Vorschulkindern Geschichten vorgelesen. Das seien aber eher punktuelle Veranstaltungen gewesen. Seit Beginn des neuen Schuljahrs gilt für die ganze Schule ein Sprachenlehrkonzept. Im ersten Zyklus, der Vorschule, bekommen die Kinder Geschichten erzählt, malen Bilder dazu und erzählen die Geschichten anschließend nach, um so viel wie möglich zu verbalisieren. Wird damit eine erste „Erzählkompetenz“ auf Luxemburgisch aufgebaut, folgt im zweiten Zyklus Deutsch und die Schüler beginnen zu schreiben. In Schreibateliers formen sie kurze Geschichten, zunächst nur ein paar Sätze, später dann mehr. Im dritten und vierten Zyklus werden Erzählen und Schreiben auf Deutsch und Französisch intensiviert. „Im vierten Zyklus“, sagt Quintus, „arbeiten wir jeden Dienstag während zwei Stunden an einem Text.“ Alle zwei bis drei Wochen entstehe eine neue Geschichte, immer unter Begleitung der Lehrer. „Manche Kinder schreiben eine halbe Seite, andere zehn.“ Ist der Text schließlich fertig, bewerten die Schüler ihn selber anhand von Fragen wie: Wie war meine Rechtschreibung? Bin ich beim Schreiben unsicher gewesen? Habe ich im Text viele verschiedene Verben benutzt?
Die Eltern einzubeziehen, gehört ebenfalls zum Konzept. Eine Erhebung über den Sprachengebrauch zuhause wird von der Schule derzeit vorbereitet, Einwandererfamilien wurden jedoch bereits ausdrücklich gebeten, ihre Herkunftssprache mit dem Kind zu pflegen, weil das eine „Ressource“ sei. Leider, sagt Quintus, sei eine chinesische Schülerin noch ein wenig scheu und nur manchmal bereit den Mitschülern zu erläutern, wie man dies und das auf Chinesisch ausdrückt. „Wenn sie es tut, ist das immer besonders spannend.“
Motiviert zum Sprachenlernen scheinen die sechzehn Fünftklässler an diesem Vormittag alle zu sein. Die Lehrerin muss nicht nur lange bitten um Beispielsätze mit verbes pronominaux, die Kinder bieten auch auf, was die Fantasie hergibt. Ein Satz mit s’aimer gefällt Quintus besonders. Je me tue au Parc Laval à Esch-sur-Alzette dagegen nicht so gut. „Der Satz ist richtig, aber so etwas schreiben wir nicht immer, okay?“, sagt sie bestimmt. Die Schüler nicken. Anschließend werden die Beispielsätze noch in die verneinte Form und ins Passé composé gebracht, und dann ist die Französischstunde gelaufen. Wer die Sonnenfinsternis noch nicht im Live-Stream gesehen hat, stürmt jetzt in den Computerraum.
Welche Erfolge die Schule mit dem neuen Ansatz zum Sprachenlernen zu verzeichnen hat, lasse sich noch nicht sagen; dazu sei das Konzept noch zu jung, erklärt Angélique Quintus. Motiviert seien die Schüler aber, das bemerke sie. Und anscheinend wirkt es sozial stabilisierend: „Die Schüler gehen entspannter miteinander um.“ Das könne daran liegen, dass sich in Erzähl- und Schreibateliers die Schüler aus den unterschiedlichen Zyklen begegnen. „Da ist der Schüler aus dem ersten Schuljahr für den aus dem sechsten nicht mehr ‚ein Kleiner’, sondern der Tom.“ Für eine große Grundschule wie die an der Delhéicht-Straße mit ihren 560 Schülerinnen und Schülern ist das nicht zu unterschätzen.
Den Lehrerinnen und Lehrern tut es offenbar ebenfalls gut, dass die Schule sich in ihrem Plan de réussite scolaire 2014-2017 einen „roten Faden“ für den Sprachenunterricht im ganzen Haus gegeben hat. Wenngleich das Konzept aufwändiger ist als der Unterricht, den eine Lehrkraft allein verantwortet: „Wir arbeiten jetzt nicht nur in Teams pro Zyklus, sondern gestalten den Unterricht für die ganze Schule.“ Dadurch fühle man sich, sagt Quintus, nicht mehr allein vor der Klasse und lerne sich unter Kollegen besser kennen.