Bartsch Kindermörder

Kindheit stehlen

d'Lëtzebuerger Land vom 30.03.2000

Nur ein bisschen Liebe suchte er, sein ganzes kurzes Leben lang, der Jürgen Bartsch - wie alle Kinder. Liebe, Anerkennung, Freunde, ein ganz normales Leben halt. Und erntet nur das Gegenteil: seine hochneurotische Mutter mit Putzfimmel striegelte ihn zum kleinen feinen Herrn heraus und verbot ihm fast alles, schlug einfach auf ihn ein, ohne ersichtlichen Grund, ekelte sich gar vor ihm und schimpfte ihn hemmungslos "ein Stück Scheiße". Auch sein Vater, sein arbeitsamer Metzgervater, kannte keine positiven Gefühle für den Adoptivsohn, der immer viel zu schwach für alles war, der während seiner Lehre im Schlachthof nicht einmal ein Schwein allein zerlegen konnte. 

Zwischen seinem fünfzehnten und neunzehnten Lebensjahr brachte Jürgen Bartsch vier Schuljungen auf grausamste Art und Weise um, mit dem Metzgermesser. Und wurde entdeckt, weil er den fünften Jungen hatte leben lassen, bis er von der Suppe zurück war, die bei seinen Eltern sehr pünktlich gegessen wurde, und er, in seinem Drang zur Normalität oder in Angst vor seiner Mutter, das Abendessen auf keinen Fall verpassen wollte. Jürgen Bartsch starb 1966 nach einem aufsehenerregenden Prozess während einer freiwilligen Kastrationsoperation.

Nicht so bei Eva Paulin: sie inszeniert ihren Mann Jean-Paul Maes als heute fünfzigjährigen Bartsch, der in einem Café als Gehilfe untergekommen ist und resozialisiert werden sollte. Der Text stammt von Bartsch selbst, aus den Briefen, die er mit dem Journalisten Paul Moor wechselte und aus denen Oliver Reese einen Theatermonolog zusammengestellt hat. Serge Tonnar, als fiktiver Barbesitzer und Schlagersänger Freddy, hilft Jean-Paul Maes beim Monolog, bleibt selbst jedoch stumm - außer während der Schlager, die er inniglich singt.

Jean-Paul Maes ist höchst beeindruckend als Jürgen Bartsch, als Psychopath, der immer weiter "ein kleiner Junge" sein wollte, sich dem Erwachsenwerden verschloss, andererseits allerdings auch Macht genießen wollte, zum Beispiel bei seinen regelrechten Mordzeremonien, die Kirchenritualen ähnelten. Verschiedene Textpassagen sind psychisch und fast schon physisch unerträglich für den Zuschauer, wenn Bartsch/ Maes diese furchtbaren Taten schildert, die er selbst von außen sieht, oder sich in seine pädophilen Phantasien hinein redet, die abstoßen müssen. Kontrapunktisch zu solchen extremen Textpassagen setzt Eva Paulin Freddy Quinn- und Heintje-Schlager ein, die Bartschens Wunsch nach einer perfekten Idylle karikatural illustrieren, jedoch auch, um die Unerträglichkeit der realen Erzählung immer wieder zu brechen und dem Zuschauer eine Atempause zu gönnen. 

Die zentrale Frage des Stückes ist und bleibt die der Schuld: war Bartsch wirklich nur Opfer eines Systems, einer Erziehung, seines Triebes, der Lieblosigkeit seiner Eltern, der Misshandlungen im Klosterinternat, so wie er sich selbst darzustellen versucht? Immerhin war er auch Täter, und zwar ein extrem brutaler.  Schließlich war er es, der die vier Morde geplant und eiskalt durchgeführt hat, nicht jedes Kind, das sein Schicksal teilt, wird auch nur annähernd zu einem solchen Unmenschen. Bartsch Kindermörder gibt glücklicherweise zu all den Fragen keine Antworten und schon gar keine Entschuldigungen, sondern versucht, ein Psychogramm eines grausamen Psychopathen zu erstellen. Das ist schon ernorm und hebt das Stück auf eine weit komplexere, eine moralische Ebene. Absolut sehenswert.

 

Bartsch Kindermörder von Oliver Reese, inszeniert von Eva Paulin, mit Jean-Paul Maes und Serge Tonnar wird noch heute abend, sowie am 1., 5., 6., 7., 8., 12., 13. und 15. April im alten Café der Escher Kulturfabrik aufgeführt; Telefon für Reservierungen 55 88 26; Informationen über Telefon 55 44 93-1

 

josée hansen
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