Was wäre wenn...? Wenn zum Beispiel Jürgen Bartsch, der zwischen 1962 und 1966 vier Schuljungen missbraucht und bestialisch umgebracht, ja wahrlich geschlachtet hat, und 1974, nach achtjähriger Gefängnisstrafe bei einer Kastrationsoperation starb, wenn dieser Mann noch leben würde. Was wäre aus ihm geworden? Von dieser Hypothese ausgehend, inszeniert Eva Paulin Bartsch als heute fünfzigjährigen.
Vielleicht, so vermutet sie, wäre ihm, nach Fortschritten im Gefängnis, eine Resozialisierungsmaßnahme zugute gekommen. So lernen wir ihn im alten Escher Bistro kennen: er putzt den Boden. Freddy, der Inhaber, sucht abwesend nach den passenden Schlagerplatten für seinen Schlagerzauber mit Freddy und Jürgen-Abend, als plötzlich, bei Heintjes Mama, Bartschs Kindheitserinnerungen wieder hochstoßen und er zu erzählen beginnt, wie das alles so kommen konnte.
Die Figur des Jürgen Bartsch ist keine Fiktion. Ihn hat es wirklich gegeben, sein Fall hat in den Sechzigern in Deutschland eine wahre Hysterie ausgelöst, vergleichbar mit jener, die dreißig Jahre später Dutroux in Belgien umgab; er hat die vier Kinder wirklich umgebracht, und diese Lebensgeschichte wirklich erzählt. Es sind seine Worte, die Jean-Paul Maes in seiner Rolle benutzt.
Zusammengetragen wurden sie damals von Paul Moor, Korrespondent einer amerikanischen Zeitung in Deutschland, der während Bartschs Inhaftierung einen intensiven Briefwechsel mit ihm begann und so nach und nach sein Vertrauen gewann.
Oliver Reese wiederum hat diesen Briefwechsel zu einem Theatermonolog zusammengestellt, welchen Eva Paulin ihrerseits verdichtet und "theatralischer" gestaltet, u.a. durch den Einsatz einer zweiten Figur, des Cafébesitzers Freddy (Serge Tonnar). "Ich fand es interessant, in diesem Stück überhaupt einmal eine solch subjektive Darstellung eines Psychopathen zu lesen," sagt sie, und dass sich Bartschs Erinnerungen und Erzählungen wie Puzzlestücke zu einem Identitätsbild zusam-menfügen.
Und
so erzählt er, dass seine leibliche Mutter nach der Geburt "einfach
abgehauen" ist, seine Adoptiv nie ein gutes Wort für ihn übrig hatten, er immer "ein kleiner feiner Mann" sein musste, keine Freunde hatte, zu schwach war, um Metzger zu werden wie sein Vater. Jean-Paul Maes interpretiert Bartschs Sadismus, seinen Drang zu morden, auch als eine Gier nach der Macht, die er nie hatte. Irgendwie, das zeigen seine Briefe, gab ihm auch der ganze Medienrummel um seinen Fall, endlich eine Identität, ihm, dem stillen, schwächlichen Jürgen Bartsch, der sonst fast unsichtbar durchs Leben ging. "Wir wollten auch die Gefahren zeigen, wie schnell man moralische Grenzen überschreiten kann" so Eva Paulin. Bartsch Kindermörder wird ab Donnerstag, 23. März, in der Escher Kulturfabrik aufgeführt.
Bartsch Kindermörder von Olvier Reese; Inszenierung: Eva Paul; mit Jean-Paul Maes und Serge Tonnar; Musik: Serge Tonnar; Produktion: Theater GmbH und APTC asbl; gespielt wird im kleinen Bistro der Escher Kulturfabrik; Vorführungen am 23., 29. und 31. März und am 1., 5., 6., 7., 8., 12., 13. und 15. April, jeweils um 20 Uhr; Reservierungen unter Nummer 55 88 26