Liu Ping ist das dritte Mal mit dabei. Zusammen mit ihrer Schulklasse fährt die 16-Jährige zwei Tage vor Beginn der Sommerferien zum Guanting-Stausee, 73 Kilometer vom Pekinger Stadtzentrum entfernt. „Eigentlich ist jeder Pekinger Bürger verpflichtet, mindestens einmal im Jahr einen Baum zu pflanzen“, erzählt Liu Ping. Eine Verordnung, die es bereits seit vielen Jahren gebe. Nur leider würde sich nur kaum jemand daran halten, so die Schülerin. Einige kauften sich heraus. Die meisten Pekinger jedoch würden diese Verordnung erst gar nicht kennen. Und überprüft werde dies auch nicht. „Dafür werde ich dieses Mal mindestens zwei Dutzend Setzlinge pflanzen“, sagt sie – nicht ganz ohne Stolz auf ihr Umweltengagement.
Es ist dem Einsatz von Liu Pings Lehrerin zu verdanken, dass es überhaupt zu dieser Aktion kommt. Dabei müsste die Pflanzaktion jedem Pekinger ein Anliegen sein. Nämlich spätestens dann, wenn jedes Jahr in den Frühlingsmonaten die 16-Millionen-Metropole gleich mehrfach von heftigen Sandstürmen heimgesucht wird und das Problem nicht mehr zu übersehen ist. Vom „Gelben Drachen“ ist im Volksmund dann die Rede. Die Luft verfärbt sich in der gesamten Stadt gelb und rötlich-braun. Dichter Staub verstopft die Atemwege und bringt weite Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen. Diese Stürme sind Resultat dessen, was sich hier in dieser staubigen und trockenen Gegend rund um dem Guanting-Stausee vor den Toren Pekings das ganze Jahr über beobachten lässt: Desertifika-tion – die Ausdehnung der Wüste.
Die Gegend in und um Peking ist bei weitem kein Einzelfall. Gigantische 2,6 Millionen Quadratkilometer sind in China bereits Wüste oder kurz davor zur Wüste zu werden. Das sind 28 Prozent des chinesischen Territoriums, heißt es in einem Bericht der staatsnahen Chinesischen Akademie der Wissenschaft. Dies entspricht dem Siebenfachen der Fläche Deutschlands. Mit verheerenden Folgen für die Menschen, die am Rand der sich ausdehnenden Wüsten leben: Ihre Brunnen und Wasseranlagen drohen zu versanden, Binnenseen sind bereits ausgetrocknet und Jahrtausend alte Oasen müssen aufgegeben werden, beschreibt Guido Kuchelmeister die Situation. „Kein Land hat so heftig mit der Wüstenbildung zu kämpfen wie China.“
Kuchelmeister ist „Berater für Ressourcenschutz in Entwicklungsländern“. So bezeichnet er sich selbst. Seit einigen Jahren arbeitet er vor allem in China. Für die KfW-Entwicklungsbank betreut er gleich mehrere Projekte zur Wüstenbekämpfung. Mehr als 400 Millionen Menschen seien mittel- oder unmittelbar gefährdet, schätzt Kuchelmeister. Denn betroffen seien bei weitem nicht nur die Menschen in unmittelbarer Nähe zu den großen Wüsten im Norden und Nordwesten Chinas. Auch über die Küstenregionen hinweg fegen diese Staubmassen. Und selbst Japan und die koreanischen Halbinsel sind von diesen unangenehmen Stürmen betroffen. Sie sind so kräftig, dass auch an der Westküste der USA Staub aus der Wüste Gobi gefunden wurde.
Sandstürme hat es Nord- und Zentralchina auch schon im chinesischen Mittelalter gegeben. Doch selten gab es sie so häufig wie in den vergangenen Jahren. Wie ebenfalls aus Zahlen der chinesischen Akademie der Wissenschaft hervorgeht, hat sich deren Zahl in den vergangenen 50 Jahren auf jetzt etwa zwei Dutzend im Jahr versechsfacht. Sie seien unmittelbare Folge der sich ausbreitenden Wüsten vor allem der vergangenen 30 Jahre, so die Einschätzung der Akademie.
Die Akademie benennt auch die Ursachen: Zum einen die immer längeren Dürreperioden aufgrund des globalen Klimawandels. Zum anderen der jahrzehntelange schonungslose Umgang der Menschen in den betroffenen Regionen mit der Natur, der in großen Teilen noch immer anhält. Sprich: Überweidungen, Abholzungen und der rapide steigende Wasserverbrauch der wachsenden Großstädte verstärken den Prozess der Desertifikation. „Wesentliche direkte Faktoren sind der Landverbrauch, unangepasste Land- und Wassernutzung besonders in den Steppen und Wüstensteppen wie auch der aktuelle Klimawandel“, so umschreibt es Guido Kuchelmeister.
Ein besonders großes Problem ist aus seiner Sicht die Viehwirtschaft: So habe sich die Zahl der Nutztiere in den 1990-er Jahren innerhalb einer Dekade mehr als verdoppelt – die Art und Weise des Wirtschaftens hingegen nicht. Anstatt auf Stallviehhaltung umzusatteln, hätten viele Bauern und Hirten ihre Herden weiterhin ins Freie gelassen, so Kuchelmeister. Dort koste Futter ja nichts. Überweidung war die Folge – was wiederum zu noch mehr Bodenerosion und sich damit die Wüste noch leichter ausdehnen konnte. Bereits 90 Prozent des Graslands in China gelten als degradiert. Weitere 7,73 Millionen Hektar wertvolles Ackerland sind akut bedroht.
Das Problem der Desertifikation ist für die chinesische Regierung keineswegs neu. Im Gegenteil: Galt in der Zeit unter Mao noch die Parole, die Natur habe sich dem Willen des Menschen zu beugen – was dazu führte, dass ökologische Belange überhaupt keinen Stellenwert besaßen – nahm die Regierung unter Deng Xiaoping nur wenige Jahre nach Maos Tod das Wüstenproblem in Angriff. Bereits 1978 rief sie das Aufforstungsprojekt „Große Grüne Mauer“ ins Leben. Es sollte ein Projekt werden, das sowohl vom Ausmaß als auch vom Umfang mit dem Namensvetter mithalten kann. Parallel zur großen chinesischen Mauer begann die Regierung auf einer Länge von 4 500 Kilometern einen etwa 100 Kilometer breiten Waldstreifen zu bepflanzen. Gemein ist beiden Mauern ihre Schutzfunk-tion. Während die Große Mauer einst die Mongolen aus dem Norden vor Invasion abhalten sollte, soll die Grüne Mauer vor Wüstenstürme schützen. Offiziell unter dem Namen Drei-Norden-Schutzgürtel-Programm werden bis 2 050 Millionen von Bäumen gepflanzt.
Durch diese neuen Wälder sollen vor allem der Boden fester werden, die Windgeschwindigkeiten gedrosselt werden, um darüber die Bodenero-sion zu verhindern. Anfangs pflanzte die staatliche Forstbehörde vor allem schnell wachsende Pappeln und Tamarisken. Inzwischen werden auch gentechnisch veränderte andere Baumsorten gesät, die trotz des sandigen Bodens und der Trockenheit nicht gleich eingehen. Im wesentlichen steht diese grüne Mauer nun.
Und tatsächlich: Das bislang wohl größte Umweltprogramm und Aufforstungsprojekt, das die Welt je gesehen hat, zeigt Wirkung. Wertvolle Kulturflächen, aber eben auch Großstädte wie Peking, Tianjin, Urumqi oder Lanzhou konnten vor noch mehr Sandstürmen verschont werden. „Die grüne Mauer ist im großen und ganzen ein Erfolg“, sagt die Sinologin und Umweltexpertin Eva Sternfeld von der Technischen Universität Berlin, die viele Jahre in Peking gelebt und unter anderem auch das chinesische Umweltministerium beraten hat – auch wenn natürlich sehr viel mehr Bäume aufgeforstet wurden als letztlich überlebt haben.
Was das Projekt zudem auszeichnet: Sonst gegenüber zivilgesellschaftlichen Initiativen nicht gerade aufgeschlossen, hat die chinesische Regierung auch zahlreiche
Nichtregierungsorganisationen eingeladen. In der Unruheprovinz Xinjiang, im Nordwesten Chinas, wo es viele chinakritische Minoritäten gibt, wurde etwa auch die Initiative „Xinjiang Conservation Fund“ beteiligt. Und auch Hilfe aus dem Ausland nahm und nimmt die chinesische Regierung bereitwillig in Anspruch: Insbesondere viele japanische Organisationen sind bei der Aufforstung beteiligt – hat Japan selbst das Interesse daran, die großen Staub- und Sandstürme aus China einzudämmen. Für Umweltberater Kuchelmeister ist die große grüne Mauer dennoch ein „Auslaufmodell“. Längst ist China weiter, so Kuchelmeister. Es gelte nun, die ökologischen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern – auch im wirtschaftlichen Sinne. „Die neuen Programme geben viel mehr Anreize.“
80 Prozent der 400 Millionen Hek-tar natürlichen Graslands in China sind durch Überweidung degradiert oder versandet. Im Mittelpunkt dieser neuen Programme steht daher ein totales Weideverbot gekoppelt damit, die Bauern auf Stalltierhaltung umzustellen. Kein leichtes Unterfangen. Denn zum Teil geht es um eine Umschulung Jahrhunderte alter Arbeitsweisen. Die Zentralregierung in Peking hat in den vergangenen fünf Jahren umgerechnet rund 2,6 Milliarden Euro ausgegeben, um das bestehende Grasland zu schützen und Fortbildungen für die Bauern zu finanzieren.
Mit merklich zügigeren Erfolgen als bei der grünen großen Mauer: Kuchelmeister berichtet von Pilotprojekten im chinesischen Teil der Mongolei. Dort hatte sich nach nur drei Jahren des totalen Weideverbots die Vegetationsrate von 20 auf über 60 Prozent erhöht. Lokale Sandstürme seien seitdem „merklich zurückgegangen“. 2000 gelang dann die Trendwende: Zwischen 2000 und 2004 schrumpfte erstmals seit Bestehen der Volksrepublik China die Desertifikationsfläche um rund 1 300 Quadratmeter.
Kirk Mildner, Leiter des KfW-Büros in Peking, sieht in diesem Erfolg der Chinesen vor allem drei Gründe: Der politische Wille zur Wüstenbekämpfung sei auf allen Ebenen vorhanden. Die Zentralregierung hat die institutionellen und finanziellen Vorraussetzungen geschaffen, diesen Willen auch tatsächlich umzusetzen. Und die Regierung hat die lokale Bevölkerung von Anfang an aktiv in den Prozess miteinbezogen.
„Durch die Schaffung von wirtschaftlichen Anreizen für Privathaushalte und Kleinunternehmen wird die Nachhaltigkeit der Maßnahmen gesichert“, sagt Mildner. Insgesamt sieht der Nationale Aktionsplan zur Wüstenbekämpfung vor, die Desertifikation noch in diesem Jahr zum Stoppen zu bringen. Ab 2030 sollen sich die von der Desertifikation bedrohten Flächen Jahr für Jahr verringern, so dass bis 2050 zumindest alle menschlich verursachten Sandflächen saniert sind.
Ein ehrgeiziges Ziel, sagt Umweltexpertin Eva Sternfeld. Sie glaubt nicht daran, dass sich die Desertifikation ganz aufhalten lässt, „höchstens verlangsamen“. Sternfeld ist sich sicher: „Was an einem Ort der Wüste abgetrotzt wird, geht an anderer Stelle verloren.“ Hauptproblem bleibe weiterhin, dass viele Oasen zu dicht besiedelt seien. „Im Grunde könnte sich die Natur nur regenerieren, wenn die meisten Menschen weg siedelten“, sagt Sternfeld. Die Natur sollte man ganz sich selbst überlassen.