Der Van-See, ganz im Osten der Türkei gelegen, strahlt in türkis inmitten einer smaragdgrünen Landschaft. Die asiatische Steppe, so scheint es, hat sich hier am äußersten Rand der Türkei zu einer Schweiz aufgeschaukelt. Mit grasbewachsenen lieblichen Hügeln und schneebedeckten Bergen, die in der Mittagshitze Anato-liens kühle Beruhigung ausstrahlen. Doch nicht nur der Van-See ernährt mit seinem sodahaltigen Wasser kein Leben. Auch der seit einem Vierteljahrhundert immer wieder auflodernde Bürgerkrieg des türkischen Militärs gegen die kurdische PKK lässt Menschen hier kaum gedeihen. Auf der löchrigen Straße nach Agri sind immer wieder Militärposten hinter Sandsäcken zu passieren. Große Straßenschilder haben nur wenige, ferne Orte in dieser Weltgegend anzukündigen. Einer davon heißt schlicht Iran.
Agri ist ein staubiges Provinznest mit vielen Internetcafes und Teestuben. Die Teestuben beherbergen die vielen Arbeitslosen, die Internetcafes die vielen geflüchteten Iraner. Diese tatenlose Männergesellschaft macht Agri zu einem merkwürdig überfüllten Ort. Eine kleine Stadt, in der die Frustration schon den Fassaden anzumerken ist.
Am winzigen Tischchen einer ärmlichen Teestube sitzt Makan*. Der 24-Jährige duftet nach modischem Rasierwasser, seine Lacoste-Laptop-Tasche auf den Knien, so als ginge es gleich ans Geschäftemachen. „Wir Flüchtlinge sind sonst nie so früh auf“, sagt er entschuldigend. „Wir haben ja nichts zu tun, daher gehen wir spät ins Bett.“ Die anderen würden bestimmt bald kommen.
Es ist ein glühend heißer Sommermorgen und „die anderen“ sind eine Handvoll iranischer Flüchtlinge, die Makan auf Bitten einer in Berlin lebenden iranischen Aktivistin für die Reporter zusammentrommeln soll. Sie sei so dankbar, dass endlich jemand mal nach Agri, diesem Außenposten an der türkisch-iranischen Grenze fahre, um sich dort ein Bild der Lage zu machen, hatte sie zig mal gesagt.
Die Lage ist schnell beschrieben. Denn seit der Niederschlagung der iranischen Protestbewegegung im vergangenen Sommer sind tausende junge Iranerinnen und Iraner in die Türkei geflohen. Sie fliehen, weil ihr eigenes Regime sie foltert und verfolgt. Sie kommen zu Fuß oder mit dem Teheraner Nachtzug über die Grenze und hoffen auf die Türkei als ihr Sprungbrett in den Westen.
Doch kaum in Van, der größten Stadt in dieser Region, angelangt, beginnt ein mühsamer bürokratischer Prozess, den sich die meisten jungen Teheraner der Facebook-Generation so nicht vorgestellt haben. Weil sein Leben nun aus Dokumenten sammeln und Amtsbescheiden besteht, hat Makan sie alle ordentlich in einem Schnellhefter gesammelt, den er nun aus seiner Laptoptasche zieht. Hier das Urteil des Teheraner Volksgerichtshofes, das ihn zu 15 Jahren Haft verurteilt. Begründung: Mitgliedschaft in einer verbotenen Partei. Gleich dahinter eine Bestätigung aus Deutschland: Makan ist Mitglied der in Deutschland ansässigen Verfassungspartei, und sogar deren Web-Administrator. Dann die Immatrikulationsbescheinigung. Makan hätte längst sein IT-Ingenieur-Diplom in der Tasche, wenn sein Leben nicht plötzlich auseinandergefallen wäre.
Teheran im Sommer 2009. Es waren die Tage und Wochen nach dem 12. Juni, nachdem deutlich geworden war, dass der iranische Präsident Ahmadineschad sein Stimmergebnis mit Hilfe von Wahlmanipulationen erzielt hatte. Unter tausenden Demonstranten war auch Makan Tag und Nacht auf den Straßen Teherans unterwegs. Eine kurze Traumphase, als für einige Tage die Hoffnung aufkeimte, die grüne Bewegung werde das Regime mit Facebook und Twitter in die Knie zwingen können. Makan, damals 23-jähriger IT-Student der Amir-Kabi Universität, dokumentierte das ungeheuerliche Geschehen mit Handy und Facebook. Jede Nacht stellte er hunderte von Bildern ins Internet. Ein bisschen besoffen von der plötzlichen Kraft, die er und seine Mitstreitenden zu haben meinten. Die Angst war verflogen, die Vorsicht zu Gunsten des revolutionären Mutes gewichen.
Für die Polizei war es nicht schwer, Makan schließlich über sein Facebook-Konto zu finden. Plötzlich standen sie in seiner Wohnung, durchwühlten alles und nahmen ihn mit. Er wurde geschlagen und bedroht. Schließlich das vernichtende Urteil. Seine Familie bekniete ihn, zu fliehen. Denn schon der Vater war 1983 wegen angeblichem Widerstandes zum Tode verurteilt worden. Zwar wurde er nie hingerichtet, doch seitdem stand die Familie unter Beobachtung.
Makan blättert weiter in seinem Hefter. In bruchstückhaftem Türkisch erklärt er kurz die Papiere. Ein Schreiben einer kalifornischen Anwaltskanzlei, Omid Advocates, spezialisiert auf Menschenrechtsverletzungen. Makan müsse als politischer Flüchtling klassifiziert werden, schreiben die Anwälte. Dann die Einladung eines Familienfreundes aus Kanada. Er bestätigt, Makan aufnehmen und finanzieren zu wollen. Doch weil Makan illegal in die Türkei eingereist ist, kann er nun nicht ausreisen.
Das wohl zukunftsträchtigste Dokument in seiner Sammlung ist die Bestätigung des UN-Flüchtlingshochkommissariates über seine Registrierung. Wie die meisten anderen Flüchtlinge auch, hatte sich Makan nach seiner Einreise im August vergangenen Jahres beim UNHCR gemeldet. Da er damals zunächst zu Freunden nach Ankara gereist war, hatte ihn die dortige Flüchtlingsagentur interviewt. Seit über einem halben Jahr prüft sie schon, ob sein Fall der Konvention 51 entspricht und er Anrecht auf den Status als Flüchtling erhalten kann. Nicht, dass das alles verändern würde.
Denn dann muss für Makan und die übrigen Flüchtlinge Staaten gefunden werden, die bereit sind, sie aufzunehmen. Kaum ein Land der EU ist scharf auf weitere Flüchtlinge. Deutschland sagte nach langen Verhandlungen kürzlich zu, 50 von ihnen aufnehmen zu wollen. Meist bleiben nur die USA, Kanada oder Australien als letzte Hoffnung.
Zackig marschiert Makan vorneweg in ein kleines, um diese Morgenstunde noch leeres Restaurant. Hinten in der dunklen Küche spült Sayeed, auch er ein Flüchtling im Wartestand. Der 45-jährige Künstler kam im vergangenen Jahr zu Fuß über die Berge in die Osttürkei, eine Woche lang war er unterwegs. Er hatte in Teheran gegen Achmadinedschad demonstriert und war dann festgenommen worden. Anders als die jungen Flüchtlinge hegt er keine Hoffnungen auf ein besseres Leben. Sein Dasein wird das eines Spülers in Agri sein, meint er mit seiner tiefen Stimme.
„Ich kenne andere Iraner hier, die haben schon ihre Anerkennung als Flüchtlinge erhalten, aber sie müssen in Agri bleiben. Was bleibt uns anderes übrig?“ Sayed spricht langsam und müde, doch sein Türkisch ist schon recht gut. Nervös drängt der junge kurdische Restaurantbesitzer die Besucher wieder hinaus. Er will keine Aufmerksamkeit erregen, denn Sayeed lässt er schwarz arbeiten. Für einen weitaus geringeren Lohn als üblich, „immerhin habe ich überhaupt Arbeit,“ meint Sayeed.
Arbeiten, etwas tun können, nicht mehr nur warten müssen. Das beschäftigt sie alle am meisten. Und weil es nichts zu tun gibt und auch das Geld, das sie auf Umwegen von zu hause bekommen, immer knapper wird, schlafen sie alle so lange es geht.
Auch Marian und Farshad. Als geklopft wird, stehen sie schnell auf und ziehen ihre Jogginanzüge an. In ihrer Wohnung, die sie erst vor kurzem finden konnten, gibt es kein einziges Möbel. Das junge Ehepaar schläft auf dem Boden. Nur der kleine Sohn hat ein großes Kissen als Bettchen und ein buntes Spielzelt im Kinderzimmer. Weil es auch nur drei Gläser gibt, wird nacheinander Tee getrunken. Schwarzer Tee aus dem Iran, sagt Marian und es klingt so, als sei das an diesem Tag die Rettung.
Farshad, 27, ist vor einigen Jahren zum Christentum konvertiert, seitdem hörten die Schwierigkeiten nicht mehr auf. Ihm fehlt an einem Schneidezahn eine Ecke, die habe ihm die Polizei bei einer der Prügelrunden ausgeschlagen, erzählt in bruchstückhaftem Englisch seine Frau Marian. Auch sie konvertierte vor über einem Jahr, nun sind beide überzeugte Protestanten, die am liebsten Kontakt zu einer Kirchengemeinde hätten.
Doch so etwas gibt es in Agri nicht. Hier ist man Muslim oder Flüchtling. Keiner der Iraner darf Agri ohne Erlaubnis verlassen. Obendrein müssen sich alle jeden Tag bei der Polizei melden und ihre Anwesenheit mit einer Unterschrift dokumentieren. „Schikane“ nennt es die 23-jährige Marian. Als sie erzählt, dass einige Polizisten die Flüchtlinge erpressen und Reisegenehmigungen nur gegen Geschenke erteilen, wird ihr Mann nervös. Sie sprechen kurz in Farsi miteinander, doch dann sagt Marian mit Nachdruck, dass die Flüchtlinge hier nicht korrekt behandelt würden, das müsse erzählt werden. Sie habe von Vergewaltigungen gehört, und davon, dass ein Rechtsanwalt in Agri, mit dem die UNHCR kooperiert, behauptet habe, er könne nichts für die Flüchtlinge tun, obwohl er eigentlich dazu da sei, für ihre gesetzlichen Rechte einzutreten.
Wenn Marian und Makan über ihre Lage sprechen, merkt man, wie bemüht sie sind, höflich und anerkennend über die Türken und ihr Land zu sprechen. Doch schnell wird klar, dass sie alles in Agri an ihrem privilegierten Leben in Teheran messen. Marian, Sayeed, Farshad, Makan – sie alle sind gebildete Mitttelklasse-Iraner. Grafikdesigner, Künstler, Computerexperten. Was sollen sie hier im endlosen Staub Anatoliens? „Wir hatten eine schöne Wohnung, einen tollen Job, ein eigenes Auto“, sagt Marian. Nur die Freiheit anders zu denken fehlte.
Bei Sara und Faryad ging es nicht mal um die Freiheit. Kurz nach den Demonstrationen wurde Faryad, 34, von den Sicherheitskräften abgeholt und schwer gefoltert. Der Werbefachmann und seine Frau hatten nicht einmal mitdemonstriert. Eigentlich suchte die Polizei nach seiner Schwester, einer Studentin, die auf dem Campus ihrer Uni Flugblätter verteilt hatte und längst abgetaucht war. Faryad konnte kaum mehr gehen, doch Sara schleppte ihn buchstäblich zu Fuß in die Türkei.
Ein türkischer Arzt fotografierte seinen Rücken: 18 Brandspuren von Elektroschocks, dazu gebrochene Rippen und ein Trauma. Das Ganze ist nun ein Jahr her, doch beide zweifeln, ob dieser Zustand der Hölle je wieder aufhören wird. Die 26-jährige Sara ist im fünften Monat schwanger und hat große gesundheitliche Probleme. Das lokale Krankenhaus bescheinigte ihr zwar eine Risikoschwangerschaft, aber Medikamente und Hilfe gibt es nicht. Sie solle eben viel schlafen, riet man ihr, denn das koste nichts.
Obwohl Sara iranische Freunde in einer größeren türkischen Stadt hat, die ihr anbieten, sie bis zur Geburt aufzunehmen und für ihre medizinische Betreuung zu sorgen, darf die junge Frau Agri nicht verlassen. „Es ist, als ob die Folter jetzt einfach weitergeht“, sagt Faryad unglücklich. Er hat nur wenig Zeit, gleich muss er zurück zum Hamam, in dem er Tag für Tag nun 16 Stunden putzt und schrubbt. Schwarzarbeit für 150 Euro im Monat. Er ist froh, wenigstens diesen Job gefunden zu haben, damit er zumindest einige Arztbesuche für Sara bezahlen kann. „Aber ehrlich, wäre es nicht besser, wir wären einfach tot?“, sagt er traurig.