Einen Katzensprung vom Sloane Square entfernt im schicken Chelsea parkt ein Lastwagen mit Luxemburger Kennzeichen. Bässe, Hörner, Harfen und andere Instrumente werden aus dem Laster gehoben, und dann spielt das Orchestre philharmonique de Luxembourg (OPL) sie in der Cadogan Hall ein. Heute findet das Auftaktkonzert der Englandtour des OPL statt. Fünf Konzerte sind vorgesehen. Die Generalprobe läuft gegen 17 Uhr noch immer, eine halbe Stunde länger als geplant. Die Musiker, die noch bequeme Straßenkleidung tragen, proben gerade die Ouvertüre der Hebriden von Felix Mendelssohn-Bartholdy, das erste Stück des Programms.
Obwohl der Saal, der früher als Kirche diente, leer ist und die allgemeine Stimmung der Musiker und Begleiter sehr locker und informell, berührt einen das Stück in der Probe genauso stark wie im Konzert. Nach der Probe verlassen die meisten Musiker die Bühne. Nur wenige bleiben sitzen und spielen einzelne Takte noch einmal durch. Philippe Koch, der Konzertmeister, plaudert mit einem Kollegen. Er schaut auf seine Hände, verschlingt seine Finger miteinander, und beide lachen.
Gegen 19 Uhr treffen die ersten Gäste ein. Eine älteres Paar spaziert vor der Cadogan Hall. Der Mann sieht den luxemburgischen Laster, zeigt mit dem Finger auf das Kennzeichen, das ja den britischen sehr ähnlich sieht, und diskutiert mit seiner Begleitung. Kurz darauf betreten beide die Eingangshalle, wo bereits Prosecco und Champagner serviert werden. Viele Gäste sind in das Programmheft vertieft, andere plaudern miteinander. Dichter Teppichboden und rührende Freundlichkeit geben dem Sammelsurium in dem engen Eingangsraum einen sehr britischen Hauch. Hier und da hört man auch Luxemburgisch und Französisch.
Ein Glockenton ertönt und eine Stimme kündigt an, dass das Konzert in fünf Minuten beginne. Auf dem Programm stehen neben Mendelssohn auch Griegs berühmtes Piano Concerto in a-Moll und Tschaikowskis Zweite Sinfonie. Die Auswahl dieses Programms hing laut Olivier Frank, dem Präsidenten des OPL-Direktionskommitees, von verschiedenen Faktoren ab: „Man passt sich dem Orchester an. Es ist so wie bei jedem Menschen: Jedes Orchester hat seine Stärken, die man mit verschiedenen Stücken zu betonen versucht. Natürlich passt man auch auf, in einem Konzertsaal nicht das gleiche Programm zu spielen wie andere Orchester die Tage zuvor.“ Vor allem auf Tour spielen die verschiedenen Säle eine große Rolle. Die Cadogan Hall ist mit einer Kapazität von rund 900 Sitzplätzen ein recht kleiner Saal, und die Akustik der umgebauten Kirche ist laut Olivier Frank „simpel“: „Bei einer Tournee muss sich das Orchester für jedes Konzert an andere akustische Realitäten anpassen. Das ist eine Herausforderung“, erklärt er.
Die Champagnergläser in der Eingangshalle sind leer getrunken und das Licht im Konzertsaal ist gedämpft. Die Musiker nehmen unter rauschendem Applaus Platz. Der Dirigent grüßt die Konzertmeister Philippe Koch und Haoxing Liang, steigt auf das Dirigentenpodest und stimmt zum ersten Takt an. Mendelssohn ist genau wie in der Probe absolut verzaubernd; die Köpfe mancher Zuschauer wiegen hin und her, einige verfolgen das Konzert mit geschlossenen Augen. Nach Mendelssohns Ouvertüre wird die Bühnenaufstellung verändert: vor das Dirigentenpodium wird ein schwarzes Klavier gestellt.
Dann betritt Jean-Yves Thibaudet die Bühne und man spürt, dass sein Auftritt von vielen im Saal erwartet wurde: sobald er auf dem Klavierstuhl Platz nimmt, ist im Saal kein Geräusch mehr zu vernehmen. Ein Pauken-Crescendo ertönt, gefolgt von einer von Thibaudet gespielten Tonfolge, die gefühlvoll und vor allem unglaublich schnell ist. Blasinstrumente lösen ihn ab und leiten eine der markantesten Melodien des Stückes ein. Emmanuel Krivine, der manchmal auch mit beiden Beinen hochspringt, sorgt für perfektes dramaturgisches Timing. Nach dem Stück spielt Thibaudet ein Werk von Chopin als Zugabe. Das Konzert endet mit einer Zugabe des Orchesters, „eine ganz kurze, versprochen!“ versichert Krivine. Die Zuschauer lachen kurz, vertiefen sich dann in die letzten Takte des Abends.
Nach dem Konzert wirkt Krivine sehr gelassen, Müdigkeit sieht man ihm auf den ersten Blick keine an. Das Orchester ist ohne Zweifel gut beim Londoner Publikum angekommen. Für den Dirigenten scheint das keine große Überraschung zu sein. Er erklärt, das OPL habe international noch nicht den Ruf, den es verdiene: „Es gibt sehr renommierte Orchester, die nicht einmal ein Viertel von dem draufhaben, was das OPL zu bieten hat. Auch sind viele Orchester bekannt, weil sie aus großen Städten kommen. Da können Musiker so schlecht spielen, wie sie wollen; die Stadt genügt, um den Ruf aufzu-bauen.“ Das OPL könne dies nicht in Anspurhc nehmen. „Im Ausland wissen die Leute nicht genau, wer wir sind, man kennt uns nicht gut. Deshalb muss das OPL mehr reisen und Alben veröffentlichen.“ Bevor die Reise am nächsten Morgen weitergeht, verbringt das Orchester eine Nacht im Hotel in Chelsea.
Am Freitagmorgen zeigt sich London von seiner sonnigen Seite. Einige Musiker holen sich noch einen Kaffe im Hotel, bevor sie den Bus betreten. Der Fahrer packt die Koffer in den Stauraum, und nachdem er den Staub auf der Windschutzscheibe als isländische Vulkanasche identifiziert hat, besteigt auch er in en Bus. Bevor es losgeht, greift er zum Mikrofon, hält ein Stück Kunststoff hoch und fragt, ob jemand einen Schuhabsatz verloren habe. Als keiner sich meldet, stellt er fest, der Fall des gefunden Schuhabsatzes sei sehr mysteriös, und startet den Motor. Die Passagiere sind entzückt von dem gesprächigen Busfahrer, und so beginnt die Fahrt nach Birmingham unbeschwert und heiter.
Während die Musiker im Bus sitzen, sind die meisten ihrer Instrumente bereits im temperierten Lastwagen in Birmingham angekommen (verschiedene Violinisten transportieren ihr Instrument im Bus, alle anderen werden sofort nach einem Konzert zur nächsten Konzerthalle gefahren). Die Organisation einer solchen Tournee, die 110 Personen umfasst, ist besonders aufwändig und kostspielig; kurzfristige Änderungen in der Planung können schwer wiegende Auswirkungen auf die Tournee haben. „Bei Verspätungen muss die Regie im Stress arbeiten, da alles verschoben werden muss. Doch wenn die Atmosphäre stressig ist, kann das Auswirkungen auf die Musiker und demnach auch auf das Konzert haben,“ erklärt Geoffroy Guirao, der für die Produktion zuständig ist. Er bedauert, dass große Tourneen wegen der Finanzkrise auf Eis gelegt werden mussten. „Wir mussten unseren Ehrgeiz ein wenig zügeln. Tourneen nach Japan und Südamerika waren vor zwei Jahren im Gespräch, wegen den wirtschaftlichen Realitäten mussten wir aber bei europäischen Projekten bleiben.“
In Birmingham ist das Personal der Technik um eine Stunde verspätet, doch die Probe findet wie geplant gegen 16 Uhr statt. Die Musiker nehmen auf der Bühne Platz, manche schauen sich den Saal an, andere halten Mobiltelefone hoch, um die rot-goldene Innenwand des Konzertsaals zu fotografieren. Die Symphony Hall in Birmingham, die eine Kapazität von 2 260 Zuschauern hat, ist imposanter und mit vier Stockwerken vor allem viel größer als die Cadogan Hall in London. Jean-Yves Thibaudet setzt sich ans Klavier, man reicht ihm einen Becher Kaffee, den er unterm Klavier abstellt.
Thibaudet ist gebürtiger Franzose, lebt in Paris und Los Angeles und wird als einer der besten Pianisten der Welt eingeschätzt. Dem Musiker, der in Converse Sneakers zu Probe erscheint, ist Hochmut jedoch nicht anzumerken. Im Aufenthaltsraum der Künstler erscheint er munter und gelassen; Besucher bittet er, sich doch an der Getränkebar an Kaffee und Tee zu bedienen. Aufgeregt scheint Thibaudet auch knapp zwei Stunden vor Beginn des Konzerts nicht, und wenn er trotzdem einmal entspannen will vor dem Auftritt, spielt er Sudoku. „Ich empfinde es als großen Erfolg, wenn ich ein Sudoku knapp vor dem Konzert lösen kann“, sagt der Pianist und lacht los. Thibaudets Art erinnert an sein lebhaftes und ausgelassenes Klavierspiel, das auch wegen seiner Virtuosität an diesem Abend wieder ein Publikum in seinen Bann zieht.
Tourneen sind für ihn nicht so anstrengend wie Solokonzerte. „Ich liebe Tourneen mit Orchestern, weil man das Programm und auch die Musiker kennt. Als Solist ist man oft alleine, hier unterhält man sich mit Kollegen und ist selten alleine. Es ist eine sehr warmherzige Stimmung. Ein bisschen wie eine Familie, die unterwegs ist“, erklärt er.
Berlioz und Grieg stehen an diesem Abend auf dem Programm, und am Ende des Konzerts verlassen die Musiker auch in Birmingham unter ausgiebigem Applaus die Bühne. „Es war wunderschön, vor allem Berlioz’ Carnaval Romain hat mir gefallen“, erklärt ein älterer Mann. Auf die Frage, ob das Paar des luxemburgischen Orchesters wegen gekommen sei, antwortet seine Begleitung: „Nein, aber es ist ja immer interessant, neue Orchester kennen zu lernen, nicht wahr?“
Hinter der Bühne herrscht ein emsiges Hin und Her. Einige Musiker räumen ihre Instrumente in die Koffer, andere ziehen sich vor den geöffneten Transportkästen um und hängen ihre Fräcke und Kleider hinein. Eine Angestellte der Symphony Hall schiebt die zwei übergossenen Glocken, die in Berlioz’ Symphonie Fantastique zum Einsatz kamen, in die Reihe der Hartschalenkoffer vor dem Laster, der am Ausgang parkt. Gleich wird er weiter nach Hull fahren, wo das nächste Konzert stattfindet. Auch in Southend-on-Sea wird das Orchester Halt machen. Das Konzert in Irland wurde wegen des unterbrochenen Flugverkehrs abgesagt.
Beim Verlassen des Konzertsaals wird plötzlich klar, dass die Symphonie Hall sich in der Straße befindet, die wohl Birminghams Partymeile ist. Die ersten angetrunkenen Studenten torkeln über den Gehweg, ein Auto mit grölenden Insassen rast vorbei, und man wünscht sich, Grieg und Mendelssohn würden auch außerhalb des Konzertsaals jedes andere Geräusch übertönen.