D’Land: Wie ist die Idee zu dem Text Parterre entstanden?
Michel Clees: Ich habe nie verstanden, weshalb der Staat derart viele Beamte auf Lebenszeit braucht. Einige wenige sind aus Kontinuitätsgründen sicher notwendig, aber ob dieses Nicht-in-Frage-gestellt-Werden einer Gesellschaft wirklich guttut? Als ich noch dem Verwaltungsrat von Esch2022 angehörte, habe ich gesehen, was das Beamtentum im Sein der Betroffenen anrichten kann, und habe angefangen, mir Notizen zu machen. Daraus entstand die Hauptfigur, der Paul.
In der letzten Spielzeit waren Sie am TNL „Author in residence“. In der Zeit sind Captcha und Parterre entstanden, die nun zusammen bei Éditions Guy Binsfeld erschienen sind. Gibt es einen roten Faden zwischen beiden Texten oder beziehen sie sich aufeinander?
In beiden Texten steckt sehr viel Wut, das ist der rote Faden. Als Schreibender muss man sich politisch irgendwie positionieren, weil alles so über einen fällt – die Sorge um die Welt, die politischen Umstürzungen, dass es zurzeit nicht angebracht ist, über Befindlichkeiten zu reden. Ich finde, es ist eine gefährliche, heikle Zeit, die danach schreit, kommentiert zu werden. Captcha hatte ich speziell fürs TNL als Auftragsarbeit geschrieben. Parterre habe ich so umgeschrieben, dass es auch auf der Bühne funktioniert, habe die drei Figuren eingebunden, denn ursprünglich war es ein Monolog.
In Parterre geht es um eine Wohngemeinschaft, in der drei unterschiedliche Individuen leben. Der Luxemburger Paul, die Luxemburgerin Valérie und der Syrer Mahmud teilen sich eine Wohnung, in der auch Weltanschauungen aufeinanderprallen. Insbesondere Paul ist nicht frei ist von Vorurteilen, ein bornierter Staatsbeamter und Chauvinist – was erschien Ihnen an dieser Personenkonstellation reizvoll? Ist die Zusammensetzung auch ein Abbild der Luxemburer Gesellschaft, beziehungsweise spiegelt sie diese wider und legt ihre Risse offen?
Ich glaube, dass die Luxemburger Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg – auch vielleicht durch das Schulsystem, was uns oktroyiert wurde, dieses Auswendiglernen, das sich zum Teil bis heute behauptet – nicht dazu erzogen wurde, kritisch den Ist-Zustand zu befragen. Es gibt zwar viele kluge Menschen hier, doch sie haben sich das Denken schwerst selber angeeignet. In den 60er/70er Jahren war die Schule nicht konzipiert, irgendetwas zu hinterfragen. Und viele dieser Menschen, die so groß geworden sind, sind jetzt Beamte – das sind die Leute, die uns regieren, uns verwalten. Das Hinterfragen haben sie nicht gelernt. Das spiegelt sich in der Figur des Paul – er hat ja manchmal fast sympathische Ansätze, aber dieses Zerrissen-Sein in Pflicht und Auftrag wollte ich an ihm klarmachen. Dass da ein Syrer dabei ist, hat auch mit der Aktualität zu tun. Der Text ist eineinhalb Jahre alt, und die Flüchtlingsdiskussion ist eine große Diskussion. Immer noch. Im zweiten Text Captcha taucht sie auch wieder auf. Ich finde, dass der Text die Konflikte innerhalb der Luxemburger Gesellschaft offenlegt. Valérie verkörpert, was ich bei den meisten Jugendlichen verspüre: Sie hat diese Lust und diesen Drang, etwas zu verändern, etwas grundlegend an den Verhältnissen zu ändern, allein weiß sie jedoch nicht wie.
„Es bleibt uns nichts übrig, wir müssen zusammenleben, und da draußen ist es kalt, und das Draußen ist uns gegenüber gleichgültig. Das ist der Grund für Herzenswärme“, sagt Valérie an einer Stelle. Ist die WG im Parterre eine Art „erzwungene Schicksalsgemeinschaft“ – das Kellergeschoss, in dem kein Platz ist für Humanität oder eben gerade? Ist es Zufall, dass vor allem die Frauenfigur durch Weitsicht und Klugheit besticht?
Das ist schon bewusst so angelegt, manchmal fürchte ich, dass der Text moralisierend ist. Denn diese Valérie hat ganz wunderbare Instinkte, aber die Gegensätzlichkeit zwischen den Dreien und das Nicht-Verstehen, das gibt es einfach auch in unserer Zeit. Und das wird durch das, was wir in den Medien und in den sozialen Medien mitbekommen, ja auch offensichtlich – ein tiefgehendes Kommunikationsproblem zwischen dem, was ist, und dem, was in den sozialen Netzen vorgegaukelt wird. Die Bedeutung des Lebens schwindet zugunsten der virtuellen Welt. Daraus entsteht ein Theaterstück, bei dem man am Ende fast wieder am Anfang steht, weil die Regeln der Chronologie im Netz verschwimmen und so eine Lösung nicht in Sicht ist.
Ist es eine erzwungene Schicksalsgemeinschaft? Ich glaube schon, denn sie wohnen nicht als Freunde zusammen. Wir müssen irgendwie zusammenleben, zumal die Immobilienpreise nicht mehr zu bezahlen sind. Wahrscheinlich ist es sogar die Zukunft, dass man zu mehreren in einem Haus zusammenlebt. Und das werden a priori nicht immer „gute Freunde“ sein.
„Wir trüben das Wasser, damit es tief erscheint“, sagt der Staatsbedienstete Paul über seinen Job im Ministerium. Und er spricht davon, dass wir „die Legitimität des materiellen Egoismus zu keinem Moment in Frage stellen dürfen, da er ja den wirksamsten Antrieb unserer Gesellschaft darstellt“. Dem Bühnentext vorangestellt ist ein Zitat von Ödön von Horvath (aus Glaube Liebe Hoffnung, 1932), das die Unmenschlichkeit anmahnt in einer Zeit des aufkommenden Faschismus ... Wie viel Gesellschaftskritik birgt Parterre?
Ich empfinde den Text als sehr politisch zwischen den Zeilen. Ich wollte auch eine politische Aussage treffen. Dass es so nicht weitergehen kann, sagt Valérie immer wieder, und Paul hält verkrampft am Denken der 60er Jahre fest. Er möchte, dass alles so bleibt. Das ist meiner Meinung auch ein Grund, weswegen der Faschismus wiederaufkommt, weil die einen glauben machen wollen, dass wir noch immer in den 60er Jahren leben. Die halten noch immer an diesem Heim-Herd-Frau-Bild fest. Damit locken sie die Leute an. Paul ist an sich jemand, der die alte Ordnung wiederherstellen möchte: Ich möchte wieder mein trautes Heim, meine Zigarette in der Mittelkonsole des Autos, meinen Sonntagsbraten! Insofern ist es, denke ich schon, ein sehr politischer Text, weil er auch nationalistische Zitate von Roland Freisler bis hin zu Spitzenpolitikern der AFD einbringt, wie er Missstände offenzulegen versucht, aber gleichzeitig auch Lösungen bietet.
Ja, ich glaube wir sehen alle, dass wir am Abgrund stehen. Das sehen die Jugendlichen, weshalb sie so schwer zu trösten sind. Aber Valérie kämpft trotzdem dagegen an, und ein Hoffnungsschimmer ist dieses kitschige Bild, dass da ein Gefühl wie Liebe zwischen Valérie und Mahmud aufkommt. Dieser Höhepunkt des Textes wird dramaturgisch ganz klein gehalten, obwohl er so unerwartet menschlich ist.
Die Corona-Pandemie hat der Premiere von Parterre mehrfach einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Uraufführung wurde bereits zweimal verschoben. Der neue Spieltermin für die Premiere ist der 20. Januar 2021. Hat die Corona-Pandemie eine neue Zeit für den Kulturbetrieb eingeläutet?
Definitiv, weil viele Leute aus dem Kulturbetrieb diese Corona-Pandemie nicht finanziell überleben werden. So viele arbeiten unermüdlich mit großem schöpferischen Aufwand an neuen Produktionen, arbeiten rastlos und ungetrübt. Die Leiterinnen und Leiter von Kulturinstitutionen programmieren unentwegt und zuversichtlich, andere finden sich gelähmt in diesem runtergefahrenen Kulturbetrieb wieder. Ich will niemanden einen Vorwurf machen. Ich möchte nicht gern in der Situation sein, wo man all das zu verantworten hat, was jetzt entschieden wird. Und im Nachhinein ist man immer klüger, aber, dass die Kultur so vernachlässigt wird und man sie so totschweigt, das tut schon sehr weh (das Gespräch wurde vor Weihnachten geführt, als für zwei Wochen verschärfte Einschränkungen verabschiedet worden waren, d. Red.). Ich glaube, es wird sich herausstellen, dass es falsch ist. Es wäre kohärenter gewesen, wenn man die Kultur nicht links liegen gelassen hätte und nicht nur übers Internet versucht hätte, sie mit Darbietungen, Lesungen, Bildern zu übermitteln. Das ist nämlich ein schrecklicher Trugschluss, dass man jetzt glaubt, man könne sich die Kultur nach Hause bestellen über ein Internetprogramm. Ich würde mir wünschen, dass kein Künstler mehr da mitmacht, dass aufgehört wird damit und man nicht mehr irgendeine Darbietung als Trösterlein ins Netz setzt. Das darf nicht sein, weil es ein gefundenes Fressen für die sein wird, die das Budget der Kultur gern viel kleiner haben wollen. Dann wird man vielleicht bemerken, dass die Kultur viel mehr ist als nur ein Youtube-Video. Ihr Stellenwert wurde verkannt und manchmal habe ich Angst, dass am Ende gesagt wird: Naja, jetzt haben wir neun Monate ohne Kultur gelebt – brauchen wir die überhaupt noch?
Künstler wurden während der Corona-Pandemie in Luxemburg zwar finanziell unterstützt ...
Es wird wirklich viel gemacht, um die Künstler zu unterstützen. Wir haben eine gute Kulturministerin, die sich einfühlen kann in die Haut der Künstler. Aber man kann die Kultur nicht mit finanziellen Häppchen abspeisen, es braucht schon mehr. Die meisten Künstler warten in ihrem Schaffen nur auf den Startschuss, die haben so viel zu sagen. Und andere bleiben sprachlos, solche, die mit ihrer Empfindsamkeit nicht gegen die eingeschränkte Zukunft können. Manche brauchen Motivation und Projekte, die Chance auf Realisierung haben. Diesen Künstlern setzt der Stillstand zu. Aber das geht einher mit der allgemeinen Situation. Nicht nur in der Kultur, in allen Bereichen des Lebens, im Supermarkt, in den Fußgängerzonen, in den Arztpraxen: Die Schwermut ist zum Grundtenor geworden, weil niemand von uns, auch die ältere Generation nicht, sich auf diese neue Welt hat vorbereiten können.
Was wünschen Sie sich für die Rezeption Ihres Textes und für die Premiere, was sollte das Stück auslösen?
Ich wünschte mir, dass selbst jene, die nicht lesen, verstehen, was gemeint ist..