Zu den beliebtesten, vom Nationalen Forschungsfonds bezuschussten Steckenpferden der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität gehört es, die in manchen Kreisen etwas diskreditierte katholisch-vaterländische Geschichtsschreibung noch einmal als Konstruktion nationaler Identität nachzuerzählen. So kann ihr in Krisenzeiten unverzichtbarer Kern, das konservative Ideologem eines homogenen Volkskörpers, am Leben erhalten werden. Dazu hatte eine Identités, politiques, sociétés, espaces (Ipse [=selbst]) getaufte Forschungseinheit vor drei Jahren die sich auf den Ansatz von Pierre Nora berufende, populärwissenschaftliche Aufsatzsammlung über nationale Symbole, vom Klöppelkrieg bis zur Roten Brücke, Lieux de mémoire au Luxembourg, herausgegeben (d’Land, 23.3.2007). Als zweite größere Veröffentlichung dieses Forschungsprojekts reichten dieselben Autoren, Pit Péporté, Sonja Kmec, Benoît Majerus und Michel Margue, dieses Jahr die wissenschaftliche Synthese nach, Inventing Luxembourg.
Das Buch konzentriert sich auf die „Meistererzählungen“ genannte dominierende Darstellung der Landesgeschichte, des Staatsgebiets und der Landessprache. Dabei geht es zwangsläufig nicht ohne Überschneidungen und Wiederholungen ab. Aber die Dekonstruktion ist um so interessanter, als die herrschende Meinung bekanntlich immer die Meinung der Herrschenden ist.
Als Angelpunkt der nationalen Geschichtsschreibung wird das in der Systemkrise am Ende des Ersten Weltkriegs erschienene Schulbuch Manuel d’histoire natonale des katholischen Geschichtslehrers Arthur Herchen dargestellt. Denn es trägt fast alle, teilweise bis heute geläufigen Legenden zur Legitimierung des sehr jungen und sehr kleinen Nationalstaats zusammen, vom Gründungsmythos und dem Aufstieg von einem luxemburgisch regierten Mittelalter über die Fremdherrschaft bis zur nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Der Autor gibt sich viel Mühe, diesen Topoi noch einmal durch die doch ziemlich überschaubare und bekannte Literatur nachzuspüren, und meint, dass sie erst in jüngster Zeit weniger strapaziert würden, weil nunmehr die Sprache mehr als die Geschichte zur Konstruktion nationaler Identität herhalten müsse.
Ein weiteres Beispiel dieser Konstruktion ist die Bemühung, die Gesellschaft mit einem klar eingegrenzten Staatsgebiet zu identifizieren. Wobei der Autor zwei entgegengesetzte Bewegungen erkennt: Die zentripetale, sich in die engen Landesgrenzen zurückziehende Bewegung beginnt mit den Legenden von lokalen Eigenarten und Treue zum Herrscher und gipfelt in der „Verdinglichung des Vaterlands“ (S. 192) bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine zentrifugale Bewegung strebt dagegen in die Europäische Union oder ersatzweise eine von Luxemburg dominierte Großregion.
In einem dritten Kapitel wird noch einmal der wiederholt beschriebene Aufstieg des Luxemburgischen vom deutschen Dialekt zur Nationalsprache innerhalb von zwei Jahrhunderten dargestellt, von den ersten Spuren des gedruckten Luxemburgisch, über die literarischen Klassiker und die ersten Wörterbücher bis zum Gebrauch des Luxemburgischen im Parlament, zur Personenstandsaufnahme, zum Sprachengesetz und dem neuen Interesse der Germanistik am Luxemburgischen. Wobei die Ironie der Geschichte will, dass es Geschichten über den Status der Sprache, aber noch immer keine Sprachgeschichte gibt. Die rezente Konzentration der nationalen Identität auf die Sprache macht Luxemburg in den Augen des Autor schließlich zu einer „Kulturnation“ (S. 335).
Inventing Luxembourg interessiert sich vor allem für eine meist von größeren historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhängen befreite „Genealogie“ (S. 16) der Meistererzählungen. Damit lässt es, mehr beschreibend als erklärend, ausdrücklich die politisch etwas heikle, also weit spannendere Frage außer Acht, wer der Meister ist, in dessen politischem und ökonomischem Interesse die kleinen Hände der katholisch-vaterländischen Lehrer, Studienräte, Pfarrer und neuerdings Akademiker die alten und neuen, bald patriotischen, bald verwissenschaftlichten Meistererzählungen zu Papier bringen.